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Cyberabad: Roman (German Edition)

Cyberabad: Roman (German Edition)

Titel: Cyberabad: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McDonald
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Unterhaltung hat Dr. Darius Ghotse heute die Aufzeichnungen des britischen Comedy-Klassikers It’s That Man Again im Gepäckfach des Tricycles, mit dem er sich über die Sandwege von Thekkady vorwärtskämpft. Er freut sich schon darauf, die Datei in Professor Lulls Maschine einzuspeisen, worauf der Sprecher die Titelmelodie plärren wird. »Einhunderfünfzig Jahre alt!«, wird er sagen. »Das haben die Menschen in den Tunneln der Untergrundbahnen gehört, während die Bomben auf London fielen!«
    Dr. Ghotse sammelt alte Radioprogramme. An den meisten Tagen kommt er vorbei, um mit Thomas Lull auf seinem Boot zu frühstücken, und dann sitzen sie unter dem Palmwedeldach, um Chai zu trinken und sich den fremdartigen Humor der Goons oder die hyperreale Comedy von Chris Morris’ Blue Jam anzuhören. Dr. Ghotse hat ein besonderes Faible für BBC Radio. Er ist Witwer und ehemaliger Kinderarzt, aber tief in seinem Herzen ist er Engländer. Er wünscht sich, Thomas Lull würde Cricket verstehen. Dann könnten sie sich gemeinsam die klassischen Reportagen von Aggers und Johnners anhören.
    Er rattert den holprigen Weg entlang, der neben dem Backwater verläuft, und tritt nach Hühnern und unverschämten Hunden. Ohne zu bremsen, biegt er mit dem alten roten Dreirad ab, fährt den Landungssteg hinauf und weiter auf ein langes, mit Matten gedecktes Kettuvallam. Dieses Manöver hat er schon viele Male ausgeführt. Dabei ist er niemals im Wasser gelandet.
    Thomas Lull hat tantrische Symbole auf sein Kokosnussdach gemalt, und auf dem Rumpf steht in Weiß Salve Vagina . Das ärgert die einheimischen Christen maßlos. Der Priester hat ihn darüber informiert. Thomas Lull hat ihn im Gegenzug darüber informiert, dass er (der Priester) ihn (Lull) kritisieren dürfe, wenn er es in genauso gutem Latein wie der Name seines Boots tun würde. Eine kleine Hochleistungssatellitenschüssel ist mit Klebeband am höchsten Punkt der schrägen Dachmatten befestigt. Im Heck schnurrt ein Alkoholgenerator.
    »Professor Lull, Professor Lull.« Dr. Ghotse duckt sich unter der niedrigen Traufe und hält den Fileplayer hoch. Wie üblich riecht das Hausboot nach Räucherstäbchen, Alkohol und verdorbenem Essen. Das Schubert-Quintett läuft in mittlerer Lautstärke. »Professor Lull?«
    Dr. Ghotse findet Thomas Lull in seinem kleinen, ordentlichen Schlafzimmer, das wie eine hölzerne Hülse ist. Seine Hemden und Shorts und Socken sind auf dem unberührten Bettzeug ausgebreitet. Er faltet seine T-Shirts korrekt zusammen, die Seiten in die Mitte, dann dreimal einschlagen. Ein Leben mit Koffern hat es zu einer festen Gewohnheit werden lassen.
    »Was ist geschehen?«, fragt Dr. Ghotse.
    »Zeit zum Weiterziehen«, sagt Thomas Lull.
    »Also eine Frau?«, fragt Dr. Ghotse. Thomas Lulls Appetit auf und Erfolg bei den Girlis aus der Strandzone hat ihn immer wieder verblüfft. Männer im späteren Alter sollten selbstgenügsamer sein, ohne Bindungen.
    »So könnte man es ausdrücken. Ich habe sie gestern Abend im Club getroffen. Sie hatte einen Asthmaanfall. Ich habe sie gerettet. Es gibt immer jemanden, der sich die Koronararterie mit Salbutamol verätzt. Ich habe angeboten, ihr ein paar Buteyko-Tricks beizubringen, worauf sie sich umdrehte und sagte: Also sehen wir uns morgen, Professor Lull. Sie kannte meinen Namen, Darius. Es wird Zeit für mich zu gehen.«
    Als Dr. Ghotse den Professor kennenlernte, war Thomas Lull Verkäufer in einem alten Plattenladen, ein Strandgammler inmitten uralter Compact Disks und Vinylscheiben. Dr. Ghotse war ein seit Kurzem verwitweter Pensionär, der seine Trauer mit altmodischem Humor zu lindern versuchte. In diesem hämischen Amerikaner hatte er eine verwandte Seele gefunden. Nachmittage vergingen mit Gesprächen und alten Aufnahmen. Aber es dauerte trotzdem drei Monate, bis Dr. Ghotse den Mann aus dem Plattenladen zum Nachmittagstee einlud. Fünf Besuche später, als aus dem Nachmittagstee Abendgin geworden war und sie die erstaunlichen Sonnenuntergänge hinter den Palmen beobachteten, offenbarte Thomas Lull seine wahre Identität. Anfangs fühlte sich Dr. Ghotse verunglimpft, weil der Plattenverkäufer, den er kennengelernt hatte, ein einziges Lügengebilde war. Dann empfand er es als Bürde, denn er wollte nicht der Empfänger der Enttäuschung und der Wut dieses Mannes sein. Schließlich fühlte er sich privilegiert, da er ein Geheimnis von Weltrang kannte, mit dem er bei den Nachrichtenkanälen ein Vermögen hätte

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