Cyberabad: Roman (German Edition)
gemutmaßt hat. Dann muss sie ihn nur noch überzeugen, beim Forschungsprojekt mitzumachen. Thomas Lull war der prominenteste, eklektizistischste, visionärste und einflussreichste wissenschaftliche Denker seiner Zeit. Regierungsmitglieder und Chatshow-Moderatoren waren gleichermaßen an seinen Meinungen interessiert. Wenn jemand eine Idee, einen Traum oder eine Vision hat, was dieses Ding sein könnte, das in seinem steinernen Kokon rotiert, wenn irgendjemand seine Botschaft und Bedeutung entschlüsseln kann, dann Thomas Lull.
Der Speicherblock ist nahezu allmächtig. Seine besondere Fähigkeit besteht darin, dass er jedes Überwachungskamerasystem auf erkannte Gesichter scannen kann. Außerdem ist er so konfiguriert, dass er sich, wenn er Lisas persönlichen Körpergeruch nicht mehr wahrnimmt, nach einer Stunde zu einem Klecks aus Proteinchips zersetzen wird. Seien Sie vorsichtig beim Duschen oder Schwimmen, und halten Sie das Gerät in der Nähe, wenn Sie zu Bett gehen, lauten die Anweisungen. Ihre einzige Spur ist eine unzureichend bestätigte Sichtung von Thomas Lull vor dreieinhalb Jahren in Kerala, Südindien. Die Offenbarung des Tabernakels hängt von einer einzigen unzuverlässigen alten Backpacker-Geschichte ab. Die Botschaften und Konsulate sind alarmiert, jegliche Form von Unterstützung zu leisten. Für die Spesen wurde eine Karte autorisiert. Der Kredit ist unbegrenzt, aber Daley Suarez-Martin, die weiterhin Lisa Durnaus Betreuerin sein wird, ob im Orbit oder auf der Erde, hätte gern irgendwelche Belege für die Ausgaben.
Der kleine Lightbody kracht auf die Luft, eine Schwerkraftfaust drückt Lisa Durnau tief in ihre Gelliege, und alles ruckelt, rattert und wackelt. Sie hat größere Angst als je zuvor, und es gibt nichts, absolut nichts, woran sie sich festhalten könnte. Sie streckt eine Hand aus. Sam Rainey nimmt sie. Sein Handschuh wirkt riesig, wie aus einem Zeichentrickfilm, ein winziger Punkt der Stabilität in einem fallenden, bebenden Universum.
»Irgendwann!«, ruft Sam mit zitternder Stimme. »Irgendwann! Wenn wir! Unten sind! Wollen wir uns! Zum Abendessen verabreden! Irgendwann?«
»Ja! Alles was! Sie möchten!«, heult Lisa Durnau, während sie kennedywärts dahinrast und eine lange, wunderschöne Plasmaspur über dem hohen Gras der Prärie von Kansas an den Himmel zeichnet.
18 Lull
Woran Thomas Lull merkt, dass er unamerikanisch ist: Er hasst Autos und liebt Züge, indische Züge, riesige Züge, als wäre eine ganze Nation unterwegs. Er fühlt sich wohl mit dem Widerspruch, dass sie gleichzeitig hierarchisch und demokratisch sind, die Passagiere bilden eine Gemeinschaft, die sich zeitweilig zusammenfindet. Sie ist lebenswichtig, so lange die Fahrt dauert, und verflüchtigt sich wie Morgennebel, wenn der Endbahnhof erreicht ist. Jede Reise ist eine Pilgerfahrt, und Indien ist eine Pilgernation. Flüsse, große Fernstraßen, Eisenbahnen – das sind die heiligen Dinge in sämtlichen Nationen Indiens. Seit Jahrtausenden sind Menschen über diese riesige Raute Land geströmt. Alles fließt wie Flüsse, die ineinandermünden, eine Weile gemeinsam unterwegs sind und sich schließlich wieder auflösen.
Westliches Denken rebelliert gegen solche Vorstellungen. Westliches Denken ist Autodenken. Bewegungsfreiheit. Selbststeuernd. Individuelle Auswahl und Selbstdarstellung und Sex auf den Rücksitzen. Die große Auto-Gesellschaft. In der Literatur und Musik waren Züge schon immer Maschinen des Schicksals, die das Individuum blind und unausweichlich in den Tod führen. Züge fuhren durch das Tor von Auschwitz, bis zu den Duschbaracken. Indien hat ein anderes Verständnis von Eisenbahnen. Es geht nicht darum, wohin die unsichtbare Lok einen bringt, sondern um das, was man durch das Fenster sieht, was man zu seinen Mitreisenden sagt, weil alle zusammen fahren. Der Tod ist ein riesiger, überfüllter Endbahnhof mit kaum verständlichen Ansagen und Anschlussverbindungen für neue Reisen. Zugwechsel.
Der Zug von Thiruvananthapuram bewegt sich durch ein weites Netz aus Gleisen in den großen Bahnhof. Schlanke Shatabdis schlängeln sich über die Weichen zu den Hochgeschwindigkeitsstrecken. Lange Pendlerzüge rollen heulend vorbei, mit Passagieren geschmückt, die an den Türen hängen, auf den Trittbrettern stehen, sich auf dem Dach drängen, die Arme durch die vergitterten Fenster geschoben, Gefangene der Weltlichkeit.
Mumbai. Die Stadt hat Thomas Lull schon immer angewidert. Zwanzig Millionen
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