CyberCrime
daran, sich auf die neuen Verhältnisse einzustellen.
Als Erstes brauchte er eine neue Cyberidentität. Çağatay verschwand für nahezu vier Jahre; in seinem Pass stand statt seines Namens der eines Untergebenen, nämlich des Leibwächters Hakan Öztan, und im Äther war er nun Cha 0 (ausgesprochen wie der italienische Gruß). Die erste Silbe seines Namens und die Ziffer Null hatte er bereits verwendet, als er Anfang der 1990er Jahre erstmals die BBS -Foren besuchte. Damals hatten Cha 0 s außergewöhnlich gute Sicherheitsmaßnahmen dafür gesorgt, dass niemand ihn identifizieren konnte. In öffentlichen Foren wie CrimeEnforcers und DarkMarket trat Cha 0 als Verkäufer von Skimmern auf. Privat verkaufte er uneinnehmbare Sicherheitssysteme für Computerbenutzer, die ihre Identität unter keinen Umständen preisgeben wollten.
Und jetzt hatte Bilal ihn gefunden. Aber Cha 0 s Aufenthaltsort ausfindig zu machen, war etwas ganz anderes als die Sammlung ausreichender Beweise, auf deren Grundlage man Anklage erheben konnte. Türkische Richter und Staatsanwälte sind mit dem Internet weniger vertraut als ihre Kollegen in Westeuropa oder Amerika, und in der Stadt gab es bereits mehrere hochkarätige, teure Strafverteidiger, die sehr schnell lernten, wie sie dieses Unwissen zum Wohle ihrer Mandanten und der eigenen Bankkonten ausnutzen konnten.
Çağatay genoss den Sommer – er war ein geselliger Mensch, der gern mit Freunden ausging. Häufig war er in Begleitung schöner Frauen, darunter Gerüchten zufolge ein besonders wagemutiges Mitglied der saudischen Königsfamilie. Er liebte teure Drinks, gutes Essen und Partys auf Jachten; im Laufe der Jahre hatte er ein wenig zugenommen. Geld schien für seinen flotten Lebensstil keine Rolle zu spielen.
Bilal heftete sich an die Fersen von Çağatays verschiedenen Mitarbeitern – immer mehr Indizien deuteten darauf hin, dass Cha 0 nicht nur Çağatay Evyapan war, sondern ein gut organisiertes Verbrechersyndikat. Das hier waren keine Scriptkiddies, die sich zum ersten Mal in einen Server hackten; hier ging es um organisiertes Verbrechen. Damit war es ein Beleg für einen weltweit wachsenden Trend. Die traditionellen Syndikate des organisierten Verbrechens hatten Internetbetrug lange als Schmalspurverbrechen betrachtet, das ihrer Aufmerksamkeit kaum wert war. Dies änderte sich allmählich. Als die Cyber-Kriminalität aus ihrem ursprünglichen Brutkasten, wo sich übermütige bis böswillige Computerfreaks tummelten, ausbrach und in den Bereich der realen, erwachsenen Mafiastrukturen hineinwuchs, wurde sie immer systematischer, effizienter und sicherheitsbewusster. Entsprechend verfügten Bilals Zielpersonen über immer größere Mittel, und wenn der Inspektor vor Gericht nicht straucheln wollte, musste er die Beweise der Anklage mit großer Sorgfalt und Aufmerksamkeit zusammentragen.
Die Polizisten sammelten pflichtschuldigst ihre Indizien, und natürlich waren Keith Mularski und Cha 0 auf DarkMarket nach wie vor Administratorenkollegen. Die Operation dauerte volle fünf Monate, in denen Bilal Tag für Tag winzige Beweisstücke speicherte. Er fand heraus, dass der Kreis von Çağatays engsten Vertrauten relativ klein war und dass er seine Sicherheit mit militärischer Präzision organisiert hatte. Aber neben diesen Bruchstücken, die Çağatay mit jedem beliebigen Verbrechen in Verbindung bringen konnten, hatte Bilal noch einen zweiten Plan: Er wollte nach wie vor herausfinden, ob Çağatay einen Vertrauten innerhalb der Behörden hatte – wobei er gleichzeitig betete, dies möge nicht der Fall sein.
Ende August verschwand Çağatay. Bei dem Team, das ihn verfolgt hatte, machte sich Panik breit. Der Haber7-Journalist bekam aber immer noch Nachrichten, allerdings nicht von Cha 0 , sondern von einem gewissen Yarris, der offenbar Insiderkenntnisse über Cha 0 s Aktivitäten besaß. Zu Bilals Glück tauchte Cha 0 in Istanbul ebenso unvermittelt wieder auf, wie er verschwunden war. Dennoch war es eine Warnung: Die Lage war heikel, und Bilal entschloss sich, Anfang September zuzugreifen.
In Tuzla hatten die Überwacher herausgefunden, dass alle paar Tage ein Bewohner der Villa ausging, um Lebensmittel einzukaufen. Am 8. September verließ er wieder das Haus. Bilal Şen saß in Ankara wie auf heißen Kohlen, während das Sondereinsatzkommando, das das Haus umstellt hatte, ihm von Minute zu Minute telefonisch den Ablauf schilderte. Als der Einkäufer zurückkam, schlugen sie zu –
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