CyberCrime
verzweifelt drein.
»Da ist niemand.«
39 Auf der Straße nach Nirgendwo
Inspektor Şens Arbeit war abgeschlossen. Wie es die türkischen Gesetze vorsehen, wurde der Fall nach der Festnahme an die Staatsanwaltschaft übergeben. Aber wenn Çağatay Evyapan tatsächlich Cha 0 war, wer war dann dieser Şahin, von dem Mert Ortaç steif und fest behauptete, er sei der wahre Cha 0 ? War Şahin nur ein Produkt von Merts Fantasie? Immerhin war Mert ja für seine Fantastereien und Ausschmückungen bekannt.
Aber so gern Mert auch Lügengeschichten erfand, in ihren grundlegenden Aspekten entsprach seine Geschichte der Wahrheit. Er hatte tatsächlich für verschiedene Behörden gearbeitet, unter anderem für den staatlichen Geheimdienst; er war ein sehr begabter Programmierer und verfügte insbesondere über die Fähigkeit, Smartcards zu entschlüsseln; er verdiente große Summen mit dem Verkauf gefälschter Digiturk-Karten, und deswegen wurde später gegen ihn ermittelt; er vergeudete Geld und Zeit für Menschen, die er beeindrucken wollte; er trieb sich mit Saduns Nicknames Cryptos und PilotM in den DarkMarket-Foren herum; er machte mit seiner Freundin Urlaub im Adam & Eve Hotel in Antalya; und er wurde eindeutig von Çağatay Evyapan entführt und gedemütigt.
Aber für seine zentrale Behauptung, die wahre Identität von Cha 0 sei der geheimnisvolle Şahin, blieb er jeden Beweis schuldig. Mert ließ aber detaillierte Kenntnisse über das Innenleben von DarkMarket erkennen; wenn er also log, musste irgendjemand oder irgendeine Organisation ihm alle diese Einzelheiten mitgeteilt haben. Die Frage, die bis heute hartnäckig im Dunkeln bleibt, lautet: warum? Und wer wollte wen hereinlegen oder diskreditieren, indem er den ungewöhnlichen Herrn Ortaç in die Sache verwickelte? Doch sicher nicht Çağatay Evyapan, der nach Merts Geschichte nur ein Kleinkrimineller war? Die Polizei? Oder vielleicht der Mann, den Mert als Lord Cyric benannte, ein prominentes Mitglied der türkischen und globalen Internetszene?
Dennoch ist Merts Wahrheit nach wie vor nicht weniger plausibel als die von Inspektor Şen. Der Schlüssel liegt nicht in der Identität von Şahin oder Çağatay, sondern er verbirgt sich in der Gestalt des Cha 0 . Dass es sich bei dem Mann, der sich die Skimmer-Fabrik ausdachte und als Administrator von DarkMarket tätig war, um Çağatay Evyapan handelte, steht außer Zweifel. Es stellt sich aber die Frage, ob Evyapan das ganze Unternehmen lenkte oder im Namen eines größeren Verbrechersyndikats handelte.
Insgesamt nahm die türkische Polizei rund zwei Dutzend Personen fest, die den Indizien zufolge entweder zum inneren Kern von Cha 0 s Imperium gehörten oder lose damit assoziiert waren. Der virtuelle Verbrecher war genau das: keine echte Person, sondern eine Mischung aus Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, die als Einheit auftraten. Nach dem gleichen Prinzip hatte auch Script, der ukrainische Gründer von CarderPlanet, Jahre zuvor bereits erkannt, dass sich hinter dem Gattungsbegriff »Carder« in Wirklichkeit eine Vielzahl von Charakteren mit unterschiedlichen Fähigkeiten verbirgt: Manche waren echte Hacker, manche waren Grafikdesigner, manche waren Elektronikingenieure, die Skimmer bauten; manche brachten die Skimmer an Geldautomaten an, manche holten das Bargeld, manche sorgten für Sicherheit, manche sammelten Informationen – manchmal im Auftrag der Verbrecher, manchmal auch im Auftrag der Polizei.
Beide Männer, Cha 0 und Script, hatten also vorausgesehen, wie die Welt der Cyberkriminalität sich in der Zeit nach DarkMarket entwickeln würde: weg von einer locker verbundenen Gemeinschaft einzelner Personen, die sich an opportunistischen kriminellen Aktivitäten beteiligen, und hin zu einer viel stärker systematisch gegliederten kriminellen Organisation, deren Mitglieder jeweils Spezialaufgaben erfüllen: Spamming, Virusprogrammierung, Geldwäsche, Betrieb von Botnets und andere kriminelle Tätigkeiten in der virtuellen Welt.
Vielleicht war »Cha 0 « also in Wirklichkeit eine solche Organisation – die ganze Bande in einem. Cha 0 war der Name eines Kollektivs, das zuallererst versuchte, durch Skimming zumindest ein Teilmonopol in der neuen Branche des Kreditkartenbetruges zu erlangen. Es war ein kühner Plan, und er wäre beinahe aufgegangen, wären da nicht die gemeinsamen Bemühungen von Keith Mularski und Bilal Şen sowie die Rückendeckung anderer Polizeibehörden und gewisser Einzelpersonen
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