CyberCrime
vorgedrungen. Aber weder die Polizei von Istanbul noch die Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens hatte auch nur die leiseste Ahnung, wo Ortaç sich versteckte. Und dann tauchte er plötzlich auf, um mit einem Journalisten zu sprechen.
Obwohl Ortaç sowohl von der Istanbuler Polizei als auch von einem Aufgebot an Geheimdienstagenten überwacht wurde, erklärte er der Zeitung, er sei ihnen allen im Dezember 2007 entwischt und dann in den Untergrund gegangen. An die Oberfläche sei er nur dieses eine Mal gekommen, um der Zeitung seine eigenartige, bruchstückhafte Geschichte zu erzählen.
Der Polizei von Istanbul trieb sein Kurzauftritt die Schamesröte ins Gesicht. Die Folgerungen aus dem Interview – nämlich dass er der Festnahme so leicht entgangen war – waren beunruhigend. Verstärkt wurde die Blamage der Polizei noch durch eine Warnung des Hackers: Die Festnahmen im Fall Akbank hätten für die Sicherheit der türkischen Banken keinen Nutzen gebracht, weil ein Verbrecher von viel größerem Format gerade im Begriff stehe, ihnen so viel Geld wie möglich abzujagen – und der Name dieses Verbrechers sei Cha 0 . (Bilal Şen hatte natürlich schon von Cha 0 gehört, aber dies war das erste Mal, dass jemand öffentlich über ihn sprach – und dann ein derart rätselhafter Mann.)
Ortaç hatte behauptet, Cha 0 werde von Regierungsvertretern geschützt. Für Şen war das Interview zumindest die Bestätigung, dass Cha 0 tatsächlich existierte. Aber als der Inspektor es gelesen hatte, war ihm, als blickte er in einen Abgrund. Wer schützte Cha 0 , und warum?
27 Die Hohe Pforte
Inspektor Şen blickte von seinen Notizen auf, und dabei merkte er, wie seine unguten Gefühle sich allmählich in Angst verwandelten. Wie sich jetzt herausstellte, hatte Cha 0 selbst als Antwort auf Ortaçs Interview eine Nachricht an den Nachrichtenkanal Haber7 geschickt. Es war ein außergewöhnlicher Ausbruch, gewürzt mit einer Prise Größenwahn und eisernen Überzeugungen. »Ich bin der oberste Gesetzeshüter auf DarkMarket«, donnerte er. »Ich verhindere die Arbeit von Bullen und Betrügern. Ich mache die Regeln, und alle werden ihnen gehorchen.«
Wenig später deuteten die Kontaktpersonen des Inspektors an, Cha 0 stehe möglicherweise tatsächlich über dem Gesetz. Şen unterhielt sich mit seinem ältesten Freund bei der Istanbuler Polizei. Es war beängstigend: Beide Männer machten sich Sorgen, Cha 0 könne bei der Polizei einen Maulwurf haben, und der würde seinen Chef natürlich über die Fortschritte der Ermittler in Kenntnis setzen. Wenn sie ihren eigenen Leuten, ihren Helfern und vor allem ihren Vorgesetzten nicht trauen konnten, wie sollten sie dann in dem Fall überhaupt weiter vorankommen?
In dem ersten Interview hatte Mert Ortaç ausführlich über die Geheimpolizei und andere Kräfte, die an dem Fall DarkMarket arbeiteten, gesprochen. In manchen Ländern hätte so etwas vielleicht nach einem Verschwörungswahn gerochen, aber in der Türkei wäre es unklug gewesen, die Äußerungen einfach abzutun. Mert hatte durchblicken lassen, von der Operation DarkMarket könnten Personen ganz an der Spitze der wirtschaftlichen, militärischen oder politischen Macht betroffen sein.
Seit den Wahlen von 2002, als die AKP zur beherrschenden Kraft geworden war, hatte die komplizierte politische Struktur des Landes eine neue Gestalt angenommen. Angesichts der Tatsache, dass mehr als 90 Prozent der Türken muslimischen Glaubens sind, war es eigentlich nicht verwunderlich, dass eine bekennende islamische Partei einen Erdrutschsieg eingefahren hatte. Die AKP erklärte nachdrücklich, ihr religiöser Glaube sei ihrer Verpflichtung zur Demokratie untergeordnet, ganz ähnlich wie sich viele gemäßigt-konservative Parteien in Europa als Christliche Demokraten bezeichnen.
In der Türkei jedoch gab es noch eine andere ungeheuer machtvolle ideologische Tradition: den Kemalismus. Der Name geht auf Kemal Atatürk zurück, den Gründer der modernen Türkei, und sein Leitprinzip sieht die völlige Trennung von Kirche und Staat vor. Die allgegenwärtigen Atatürk-Bilder in Geschäften, Wohnungen, Büros, Kasernen, Krankenhäusern und Gefängnissen spiegeln eine tiefe Verehrung der Türken für Kemals Vermächtnis des Säkularismus (und auch die Angst vor Festnahme bei Ungehorsam) wider.
Es gibt aber verschiedene Spielarten des Kemalismus. Seine beiden eifrigsten Unterstützergruppen stammen aus der säkularen Elite der
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