CyberCrime
Entstehung einer neuen Klasse junger, armer, arbeitsloser Männer, die im Gegensatz zu früheren Generationen große materielle Ansprüche stellten, weil sie die Aussagen über den Konsum, die ein unverzichtbarer Bestandteil der Globalisierung sind, verinnerlicht hatten. Um diese Ansprüche zu befriedigen, begann eine Minderheit mit der fieberhaften Tätigkeit in Internetcafés, wo sie vor den Polizeibehörden und auch allen anderen sicher waren. Dort fanden sie online unzählige Gelegenheiten, sich in der Kunst des Hackens fortzubilden.
Die Türkei hatte das Zeug zum Ehren- BRIC : Ihre Wirtschaft wirkte beispielsweise im Vergleich zu der Russlands wesentlich dynamischer. Die Bevölkerung des Landes – rund 80 Millionen Menschen – und sein Wirtschaftswachstum nahmen sogar schneller zu als die der eigentlichen BRIC -Staaten. Die strategische Bedeutung der Türkei war allgemein anerkannt: Das Land liegt zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer und hat Grenzen mit Bulgarien, Griechenland, Iran, Irak, Syrien und Armenien. Unter diesen Nachbarn ist kaum einer, der nicht in den letzten zwanzig Jahren größere Umwälzungen oder Kriege erlebt hätte. Unberechenbarkeit war in der türkischen Politik immer gegenwärtig, aber zur Jahrtausendwende machten die wachsende wirtschaftliche Macht des Landes und seine immer höhere Entwicklung deutlich, welche entscheidende Rolle es in mehreren wichtigen geostrategischen Regionen spielt: im Nahen Osten, in Zentralasien, am Schwarzen Meer und auf dem Balkan.
Die Internet-Infrastruktur hatte sich in den 1990er Jahren in der Türkei nur langsam entwickelt, aber in den letzten Jahren hatte sie schnell aufgeholt. Istanbul, der wirtschaftliche Motor des Landes, wurde zur Heimat einer Fülle erfolgreicher Start-up-Unternehmen sowie der Firmen für Design, Medien und Dienstleistungen, die von ihnen profitierten.
Das alles hatte natürlich auch eine Kehrseite: Die Größe des Landes, seine immer bessere Infrastruktur und die umfassendere Bildung einer jugendlichen Mittelschicht boten Gelegenheiten für Cyberkriminalität. Bis 2005, als Bilal Şens Einheit fertig eingerichtet war und ordnungsgemäß arbeitete, hinderte kaum etwas die Cracker und Hacker daran, von der Türkei aus im Netz zu operieren. Eine Entdeckung brauchten sie nicht zu fürchten. Die Einheit für Cyberkriminalität entfaltete nach und nach ihre Wirkung, aber es war ein mühsamer Weg. Wenn es Inspektor Şen gelang, Cha 0 dingfest zu machen, wäre das für die Einheit ein wichtiger Erfolg.
Aber unmittelbar bevor der Inspektor Mitte März 2008 von Pittsburgh in die Türkei zurückkehrte, erhielt er eine weitere Warnung, die seine Ermittlungen gegen Cha 0 noch komplizierter machte. Dieses Mal lieferten seine Kontaktleute in Istanbul die Einzelheiten über ein erstaunliches Interview, das ein türkischer Hacker namens Kier der bekannten Nachrichtenagentur Haber7 gegeben hatte. Darin räumte er ein, er sei vor dem Gesetz auf der Flucht.
Der Ruf von Haber7 gründete sich zum Teil darauf, dass die Agentur moralisch-geistige Rückendeckung von der Gülen-Bewegung erhielt, einer großen türkisch-islamistischen Vereinigung. Sie vertrat die Philosophie ihres Führers Fethulla Gülen, der seit Jahren im Exil in den Vereinigten Staaten lebte. Als Nachrichtenagentur der Gemeinschaft war Haber7 der proislamischen, aber auch demokratischen Regierungspartei AKP freundlich gesonnen.
Der junge Hacker Kier hatte sich an die Nachrichtenagentur gewandt und behauptet, er kenne Cha 0 nicht nur, sondern – so ließ er durchblicken – die Person oder Personen hinter dem erfolgreichsten und rätselhaftesten DarkMarket-Avatar planten auch die Ausweitung seines/ihres Verbrecherimperiums. Der Artikel enthielt ein Foto, auf dem der Hacker in einem Istanbuler Cafè zu sehen war. Das Bild war von hinten aufgenommen, aber das Profil des Hackers war teilweise zu erkennen.
Was Bilal noch nicht wusste: Bei dem Hacker handelte es sich um einen jungen Mann namens Mert Ortaç. Diese seltsame Gestalt war den Erkenntnissen zufolge der Komplize eines weiteren Cyberkriminellen namens Cryptos, den man im Januar 2008 festgenommen hatte, weil er sich angeblich in die Computersysteme der Akbank gehackt hatte, eines der größten türkischen Geldinstitute. Der Fall Akbank war in mehrfacher Hinsicht eine noch größere Angelegenheit als DarkMarket, denn das Team hatte eine Sicherheitslücke im Betriebssystem ausgenutzt und war so bis in den Hauptrechner der Bank
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