CyberCrime
auf abgehörte Handygespräche, Instant-Messaging (Kommunikationsmethode, bei der sich zwei oder mehr Teilnehmer per Textnachrichten unterhalten) und Computerdateien. Damit wurde die wachsende Internetkompetenz der Inlandsgeheimdienste unter Beweis gestellt.
Bilal Şen hatte bei alldem keine Rolle gespielt; mit seiner Sorgfalt, seinem Engagement und seiner jugendlichen Energie schien er allerdings eher zur neuen als zur alten Türkei zu passen. Andererseits war er sich wie die meisten Türken genau bewusst, vor welchem heiklen politischen Hintergrund er und alle anderen arbeiteten. Zu einer unschuldigen Schachfigur zu werden, die im Kampf zwischen dem Tiefen Staat und der demokratisch gewählten Regierung zerrieben wurde, war das Letzte, was ein türkischer Polizist sich wünschte. Nahezu alle Türken vermieden es nach Möglichkeit, öffentlich über Ergenekon zu sprechen. Alle wussten aber auch, dass die Ergenekon-Ermittlungen im Hintergrund vieler großer Kriminalfälle eine Rolle spielten, ob diese nun offen politische Auswirkungen hatten oder nicht.
Bilal musste vorsichtig sein, aber aufgeben wollte er die Jagd nicht.
Während seines Aufenthalts in Pittsburgh hatte sich zwischen ihm und Mularski eine tiefe Freundschaft entwickelt, und der FBI -Agent teilte ihm alle Geheimdiensterkenntnisse mit, die er über Cha 0 besaß. Gemeinsam fingen sie an, auf ihren spärlichen Unterlagen aufzubauen. Mularski konnte als Schlüsselfigur von DarkMarket auf ein riesiges Archiv zurückgreifen, und Şen konnte die türkischen Texte lesen. Der Inspektor wollte zu einer Einschätzung von Cha 0 s Charakter gelangen und herausfinden, ob er zu irgendeinem bekannten Cyberkriminellen in der Heimat passte: Deshalb wurden zahlreiche Dokumente eingescannt und zwischen Ankara, Istanbul und Pittsburgh hin und her geschickt.
Als wären die Dinge nicht schon rätselhaft genug, nahmen sie nach der Rückkehr von Inspektor Şen nach Ankara eine noch seltsamere Wendung. Im Web kursierte ein eigenartiges Bild.
Bilal konnte Verärgerung und Frustration kaum unter Kontrolle halten. Der Agent Mularski hatte ihm ein Foto geschickt, das auf der Website von Haber7 und später beim Magazin Wired aus San Francisco erschienen war. Darauf saß Kier in der Unterhose auf einem Stuhl und wurde offenbar gezwungen, ein Blatt Papier in die Höhe zu halten, auf dem stand:
1. Ich bin Kier. Mein wirklicher Name ist Mert Ortaç.
2. Ich bin ein Partner der Medien.
3. Ich bin eine Ratte. Ich bin ein Schwein.
4. Ich bin Reporter.
5. Ich werde von Cha 0 gefickt.
Die Hälfte aller Polizeikräfte von Istanbul suchte vergeblich nach Kier – oder Mert Ortaç, um seinen richtigen Namen zu nennen –, und Cha 0 hatte ihn nicht nur ausfindig gemacht, sondern auch entführt und erniedrigt. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass der Mann in Lebensgefahr war. Was um alles in der Welt ging da vor?
Bilal Şen hielt sich an den Grundsatz, dass es unklug war, irgendetwas im Zusammenhang mit dem Web für bare Münze zu nehmen. Als erfahrener Surfer auf kriminellen Foren und Experte für das Internetverhalten der Menschen wusste er, dass im Web ganz selbstverständlich gelogen, betrogen, übertrieben, getäuscht und konspiriert wird. Aber die Geschichte von DarkMarket in Europa und insbesondere in der Türkei ging über diese alltägliche Spiegelfechterei hinaus. Sie entwickelte sich zu einer surrealen Fabel über Hinterlist, Spionage und Verleumdung. Und ein Ende war nicht in Sicht.
Teil II
28 Ciao, Cha 0
Nachdem Inspektor Şen zusammen mit Keith Mularski auf DarkMarket recherchiert hatte, wusste er, dass Cha 0 eine eigene Website betrieb: CrimeEnforcers.com (eine Anspielung auf die Formulierung Law Enforcers – Polizeibehörden –, die in der kriminellen Bruderschaft schon seit Langem mit LE abgekürzt wurde, weil sie in Online-Diskussionen so häufig vorkam).
Auf der Homepage von CrimeEnforcers erläuterte Cha 0 seine Ziele und Dienstleistungen:
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