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Cyberspace

Cyberspace

Titel: Cyberspace Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Speed-Flora entlang der Straße begann die Farben von infraroten Satellitenbildern anzunehmen und als glühende Teilchen vor dem
    fahrenden Toyota auseinanderzustieben.
    Nun fuhr ich rechts ran, und ein halbes Dutzend Bierdosen signalisierten Gute Nacht, als ich das Licht abstellte. Ich überlegte, was für eine Zeit es nun in London wäre, und versuchte mir Dialta Downes beim Frühstück in ihrer Hampstead-Wohnung inmitten von windschlüpfrigen Statuetten und Büchern über die amerikanische Kultur vorzustellen.
    Eine Wüstennacht hierzulande ist beeindruckend; der Mond steht näher. Ich betrachtete den Mond lange und sah ein, daß Kinn recht hatte. Wichtig ist, daß man sich keine Gedanken macht.
    Tagtäglich wurden auf dem ganzen Kontinent von Leuten, die normaler sind, als ich es je
    geschafft habe, Riesenvögel, Ungetüme und fliegende Ölraffinerien gesichtet; sie versorgten Kihn mit Arbeit und Einkünften. Warum sollte ich mich aufregen, daß ich ein Gebilde aus den dreißiger Jahren über Bolinas spuken sah? Ich nahm mir vor zu schlafen; ich brauchte mir
    höchstens wegen Klapperschlangen und kannibalistischen Hippies Sorgen zu machen und wäre
    ansonsten sicher inmitten des Mülls am Straßenrand aus meinem eigenen Kontinuum. Morgen
    wollte ich nach Nogales runterfahren und die alten Hurenhäuser knipsen, was ich mir schon seit Jahren vorgenommen hatte. Der Appetitzügler klang in seiner Wirkung ab.
    Das Licht weckte mich und dann die Stimmen.
    Das Licht kam irgendwo von hinten und warf huschende Schatten in das Wageninnere. Die
    Stimmen waren ruhig; es waren undeutliche männliche und weibliche Stimmen im Gespräch.
    Mein Hals war steif, und die Augen kratzten in den Augenhöhlen. Mein Bein, das gegen das
    Lenkrad drückte, war eingeschlafen. Ich tastete in der Hemdtasche nach meiner Brille, die ich dann endlich auf die Nase bekam.
    Ich schaute um und sah die Stadt.
    Die Bücher über den Stil der Dreißiger hatte ich im Kofferraum; eins davon enthielt Skizzen einer idealen Stadt mit Zeppelindocks am perfekten Architektenhimmel und kühnen Neontürmen.
    Diese Stadt war ein Modell derjenigen, die nun hinter mir aufragte. Turm an Turm reihte sich in strahlenden Pyramiden, die sich emporschwangen zu einem goldenen Tempelturm in der Mitte
    mit den verrückten Rippen der Mingschen Tankstelle. Man hätte das Empire State Building im kleinsten dieser Türme verstecken können. Kristallene Straßen spannten sich zwischen die
    Türme, worauf glatte, silbrige Gebilde wie Quecksilberperlen hin und her schwirrten. Der
    Himmel war voller Fluggerät: riesige Nur-Flügel-Flieger, kleine, flinke Silbergebilde (zuweilen schwebte eins der Quecksilbergefährte von den Himmelsbrücken auf und gesellte sich zu dem Reigen), kilometerlange Luftschiffe, schwebende libellenartige Dinger, Helikopter nämlich ...
    Ich drückte die Augen zu und drehte mich auf dem Sitz nach vorn. Als ich die Augen wieder öffnete, zwang ich mich, auf den Tacho zu blicken, auf den hellen Straßenstaub auf dem
    Armaturenbrett aus schwarzem Kunststoff, auf den überquellenden Ascher.
    »Amphetaminpsychose«, sagte ich. Ich riß die Augen auf. Die Armaturen waren noch da, der
    Staub, die zerdrückten Filterkippen. Mit großer Vorsicht schaltete ich, ohne mich umzuwenden, die Scheinwerfer an.
    Und sah sie.
    Sie waren blond. Sie standen neben ihrem Wagen, einer Aluminiumavocado mit einer
    haifischartigen Steuerflosse in der Mitte und glatten schwarzen Rändern wie an einem
    Spielzeugauto. Er hatte den Arm um ihre Hüfte geschlungen und deutete zur Stadt. Sie waren ganz in Weiß: wallende Gewänder, barfuß in makellos weißen Sandalen. Mein Scheinwerferlicht schien ihnen nicht aufzufallen. Er sprach weise und stark, und sie nickte, und mit einemmal bekam ich Angst, eine ganz andere Angst. Einsicht und Vernunft standen nicht mehr zur Debatte; ich wußte irgendwie, daß die Stadt hinter mir Tucson war - ein Traum-Tucson, aus der Kollektiv-sehnsucht einer Ära hervorgegangen. Daß sie real war, völlig real. Aber das Paar vor mir lebte darin, und das machte mir Angst.
    Sie waren die Kinder von Dialta Downes' nichtexistenten 8Oern; sie waren die Erben des
    Traums. Sie waren weiß, blond und vermutlich blauäugig. Sie waren Amerikaner. Dialta hatte gesagt, die Zukunft sei zuerst in Amerika angebrochen, das sie schließlich hinter sich gelassen habe. Aber nicht hier, nicht hier im Herzen des Traums. Hier war es mit uns unaufhörlich
    weitergegangen - mit der

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