Cyclop
um nicht den Augenblick seines Todes noch einmal heraufzubeschwören. Sie befahl sich, an etwas anderes zu denken: zum Beispiel daran, wie sie die nächsten paar Tage überleben konnte – gemeinsam mit Dirk Pitt.
Wer, fragte sie sich, war er eigentlich? Was für ein Mann? Sie konnte ihn vor ihrer Schlafstatt sehen, wie er mit seiner Gymnastik beschäftigt war, und zum erstenmal, seit sie sich begegnet waren, fühlte sie sich deutlich zu ihm hingezogen. Einfach lächerlich, sagte sie sich. Sie war schließlich mindestens fünfzehn Jahre älter als er. Und außerdem hatte er bisher mit keinem Wort und keiner Geste zu erkennen gegeben, daß sie ihn als Frau interessierte. Nicht eine Andeutung in dieser Richtung, nicht der kleinste Versuch. Dieser Pitt war ihr ein Rätsel. Ein Mann, der alles an sich hatte, was einen Frauenhelden ausmacht. Genau der Typ, der sehnsuchtsvolle Gedanken in jeder Frau weckt und sie reizt, ihm eben dies zu zeigen – und der doch zu keiner Sekunde für weibliche Verführungskünste anfällig zu sein schien.
Sie war so vertieft in diese Gedanken, daß sie überhaupt nicht bemerkte, wie er herankam und sich lächelnd über sie beugte. »Na, wie geht’s?«
Sie wich seinem Blick nervös aus. »Zerschlagen, aber gefaßt, den Tag anzugehen.«
»Tut mir leid, daß das Frühstück noch nicht fertig ist«, sagte er, und seine Stimme hallte in dem Betonrohr. »Der Zimmerservice hier ist unter aller Kanone.«
»Ein Königreich für eine Tasse Kaffee.«
»Nach dem Straßenschild, das ich ein paar hundert Yards von hier gesehen habe, sind wir zehn Kilometer vom nächsten Ort entfernt.«
»Wie spät ist es?«
»Zwanzig vor eins.«
»Der halbe Tag ist schon vorbei«, murmelte sie und rollte sich herum, um sich auf Hände und Knie zu stützen und ins Freie zu kriechen. »Wir müssen sehen, daß wir weiterkommen.«
»Bleib drin.«
»Warum?«
Er antwortete nicht, sondern kam nur in das Rohr hinein und setzte sich neben sie. Er nahm sanft ihr Gesicht in seine Hände und küßte sie.
Sie war erst völlig überrascht und riß die Augen auf, dann aber erwiderte sie den Kuß. Es dauerte lange, bis er sich von ihr trennte. Sie sah ihn erwartungsvoll an, aber er tat nichts weiter, sondern saß nur bewegungslos da und sah ihr in die Augen.
»Ich will dich«, sagte sie.
»Ja.«
»Jetzt.«
Er zog sie fest an sich und küßte sie noch einmal. Doch dann schob er sie abrupt weg.
»Das Wichtige zuerst.«
Sie sah ihn verwundert und leicht irritiert an. »Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, warum du mich nach Kuba verschleppt hast?«
»Ist das wirklich jetzt das Wichtigste?«
»Nun, üblicherweise erledige ich mein Liebesvorspiel auch nicht in einem Kanalisationsrohr.«
»Also, was willst du wissen?«
»Alles.«
»Und wenn ich es dir nicht sage?«
Er lachte. »Dann schütteln wir uns die Hand und gehen jeder unserer Wege.«
Sie blieb eine Weile an die Innenwand des Rohres gelehnt und überlegte, wie weit sie ohne ihn wohl käme. Vermutlich höchstens bis zur nächsten Stadt oder bis zum nächsten mißtrauischen Polizisten oder Wachtposten. Pitt schien ein unglaublich geschickter und erfahrener Mann zu sein. Das hatte sie inzwischen schon mehrfach feststellen können. Es war kein Vorbeikommen an der Tatsache, daß sie erheblich mehr auf ihn angewiesen war als er auf sie.
Sie versuchte die richtigen Worte zu finden – irgendeinen vernünftigen Anfang. Sie gab es schließlich auf und sagte es geradeheraus. »Der Präsident hat mich geschickt, damit ich mich mit Fidel Castro treffe.«
Seine tiefen grünen Augen musterten sie mit ehrlicher Neugierde. »Das ist ein echt origineller Anfang für eine Geschichte. Ich würde gern den Rest hören.« Jessie holte tief Luft und begann.
Sie erzählte ihm von Fidel Castros ehrlichem Angebot eines Abkommens und der höchst ungewöhnlichen Art, wie er es an den allgegenwärtigen Augen des sowjetischen Geheimdienstes vorbeigeschmuggelt hatte.
Sie erzählte ihm von ihrem geheimen Treffen mit dem Präsidenten nach der unerwarteten Rückkehr der
Prosperteer
und von seiner Bitte an sie, seine Antwort unter dem Vorwand zu überbringen, sie gehe den Spuren des Luftschiff-Fluges ihres Mannes nach – eine Tarnung, die Castro sicherlich begreifen und genial finden würde.
Sie gab zu, wie enttäuscht sie über die Wahl ihrer Begleiter – Pitt, Giordino und Gunn – war, und bat ihn um Vergebung, daß wegen des überraschenden Angriffs des kubanischen Hubschraubers alles
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