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Cyrion

Cyrion

Titel: Cyrion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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Wasseroberfläche nicht weiter als zehn Meter unter dem oberen Brunnenrand lag - denn das war die Stelle, an der das Seil sich plötzlich straffte und zu Ende war.
    Ein großer Teil des Herrenhauses von Flor lag also über dem hohlen Bauch der Klippen. Die Geräusche in diesem Hohlraum pflanzten sich durch jeden ausreichend tiefen Schacht innerhalb des Hauses fort - die Springbrunnen, die Zisterne, den Süßwasserbrunnen im Küchenhof. Auch das Badehaus stand über der Höhle, und deshalb wurde das Heißwasserbecken, dessen Boden an einigen Stellen verräterisch durchscheinend geworden war, niemals ganz ausgeleert. Nur wenn Fackeln in der Höhle brannten, verriet das Becken sein Geheimnis.
    Etwas huschte trippelnd durch das Halbdunkel. Vielleicht eine Eidechse.
    Cyrion schien nicht der Meinung zu sein.
    Er verschwand in der im Schatten liegenden Nische zwischen einer der Säulen des Brunnens und der Wand.
    Von dort aus beobachtete er einen anderen Schatten, der vor einigen Minuten noch nicht dagewesen war. Er wuchs vor dem fahlen Lichtschimmer in dem Badehaus empor und bewegte sich durch die Tür. Eigenartigerweise wurde er von dem aus dem Brunnen dringenden Licht nicht berührt. Trotzdem wurde er erkennbar, wie durch einen eigenen, inneren Vorgang.
    Es war die Gestalt eines Mannes in mittleren Jahren, gut gekleidet, aber mit einem habgierigen, wölfischen Gesicht, das von rotbraunen, mit grauen Strähnen durchzogenem, wölfischen Haar umrahmt wurde. Er ging an Cyrions Versteck und dem erleuchteten Brunnen vorbei, ohne einen Blick darauf zu werfen. Die Augen waren weit geöffnet, hungrig und starr. Die Gestalt bewegte sich langsam. Aber das Geräusch, das Cyrion aufgeschreckt hatte, mußte tatsächlich von einer Eidechse gestammt haben oder irgendeinem anderen Nachtgetier; denn dieser Mann, der kein Licht reflektierte und keinen Schatten warf, verursachte kein Geräusch.
    Der Gesang in der Höhle unter dem Brunnen war zu einem Murmeln abgeflaut, das vom Rauschen des Meeres nicht mehr zu unterscheiden war.
    Als der Mann das Ende des Ganges erreicht hatte, schaute er sich um und schien jetzt erst den Brunnen zu bemerken. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem stumpfsinnigen Zähnefletschen. Dann drehte er sich wieder um und trat in den Innenhof des Hauses. Cyrion, der eigentlich einen Ausflug in die entgegengesetzte Richtung vorgehabt hatte, folgte ihm ebenso lautlos.
    Am Rand des Innenhofs verhielt Cyrion den Schritt. Sein geheimnisvolles Wild stand neben dem moosbewachsenen Bassin, wo einst der Springbrunnen mit dem Licht der Sterne gespielt hatte. Der Mann schaute zu den geborstenen Pfosten der Veranda und zu den dahinterliegenden Räumen hinauf. Dann wandte er den Kopf in die andere Richtung, wo sich der Küchentrakt befand. Dorthin setzte er sich in Bewegung - und blieb stehen. Und verschwand.
    Dieses Verschwinden war echt. Es war kein Trick. Auch über die Identität des nächtlichen Wanderers konnte kein Zweifel bestehen. Es war kein anderer als Mevarys verstorbener Vater.
    Ungefähr zwanzig Minuten später ertönten wieder Geräusche, ein über einen längeren Zeitraum andauerndes Scharren und Klappern von irgendwo auf dem Friedhof von Flor.

3. Kapitel
     
    Es war ein wundervoller Morgen für einen Ausflug nach Cassireia. In den Bäumen am Wegrand lärmten die Vögel. Der Weg führte bergab, mit freiem Ausblick auf allen Seiten, und darüber spannte sich ein klarer, vielversprechender Himmel. Hin und wieder und jeweils nur für ein kurzes Stück tauchte der Weg in den erfrischenden Schatten der üppig grünen Wälder. Wo der Weg in die breite und alte Straße einmündete, kamen die weißen Mauern der Stadt in Sicht und das dunkle Blau des Meeres.
    Roilants Diener hatten sich, wie sich herausstellte, bereits aus dem Dorf in der Nähe von Flor abgesetzt und waren nach Cassireia geritten. Davon offensichtlich peinlich berührt, hatte Roilant Maultiere beschafft und einige Männer angeworben, um die mottenzerfressene Sänfte zu tragen, die sich im Herrenhaus gefunden hatte. (Nur Mevary schien es nicht zu überraschen, daß die beiden Diener verschwunden waren. Fast konnte man glauben, er hätte sich schon früher im Dorf nach ihnen erkundigt.)
    Eliset saß in der Sänfte, wo verschlissene Vorhänge aus Gaze sie vor der Sonne schützten. Die nicht eben ansehnliche Gestalt, Roilants hockte auf dem vorderen Maultier und wurde von ihm mit Geduld ertragen. Der magere Harmul bildete die Nachhut. Das, abgesehen von den

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