Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cyrion

Cyrion

Titel: Cyrion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
Vom Netzwerk:
töten, konnte ein Akt der Gnade sein. Oder eine zusätzliche Versicherung. Jobel war nicht sehr klug gewesen, als er Dassin erzählte, was er jener Nacht in dem Brunnen gesehen hatte. Ebenso wenig Dassin, als er es unter dem Einfluß des von Cyrion mit einem Schlafpulver gemischten Weins ausplauderte. Daß der Junge inzwischen gemerkt hatte, daß er sich in Gefahr befand, hatte er durch seine Flucht deutlich gemacht.
    Womit noch einer übrigblieb, der, während der runde Mond über den Himmel wanderte, auf das kleinste Geräusch lauschte, das außer dem Rauschen des Meeres vernehmbar war.
    Als das Geräusch schließlich ertönte, war es ganz und gar nicht unbestimmt. Es war leise, aber gut zu hören. Und zweifellos zog sich jetzt jeder unschuldige Schläfer im Haus die Decke über die Ohren und zitterte. Geister, besonders remusanische Geister, die sich im Badehaus eingenistet hatten, waren lästige Nachbarn.
    Eine Fanfare ertönte. Dann Gesang, dessen Rhythmus militärisch klang, wenn die Worte auch nicht zu verstehen waren, eine dumpfe an- und abschwellende Hymne. Waren es Remusaner oder vielleicht Sirenen, die Kinder raubenden Meerjungfrauen dieser Küste? Denen Valia im wahrsten Sinne des Wortes zum Opfer gefallen war?
    Als Cyrion lautlos die Treppe zum Innenhof hinabging, hörte er ein ganz und gar nicht weihevolles Schrillen, das aus den Becken der zwei ausgetrockneten Springbrunnen zu kommen schien.
    Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Natürlich nicht. Die, die Grund hatten, sich zu fürchten, hatten sich verkrochen. Die keinen Grund dazu hatten, hielten sich woanders auf.
    Noch bevor er den überdachten Gang erreichte, bemerkte er den Lichtschein, der daraus hervorströmte. Die Fanfare ertönte wieder, lauter diesmal, so daß die Steinplatten unter seinen Füßen vibrierten.
    Er betrat den Gang, blieb neben dem Brunnen stehen und schaute zum Badehaus. Auch dort drang ein matter Schimmer aus dem immer noch nicht geleerten Heißwasserbecken. Er allerdings befand sich inmitten der fahlen, unsteten Helligkeit, die wie dünner Rauch aus dem großen, alten Brunnen stieg, so daß die Fische und Blumen in dem Mosaik in all ihrer noch verbliebenen Farbenpracht leuchteten.
    Die Lampe an dem Messinghaken war nicht in Gebrauch genommen worden. Das geknotete Tau hing immer noch im Brunnenschacht, und zwar so straff, als wären die Enden unter der Wasseroberfläche mit Gewichten beschwert.
    Das Wasser.
    Da funkelte es wie ein schwarzer Diamant in dem erleuchteten Schacht, wo sich vorher nur der trockene Steinboden befunden hatte.
    Daß auf dem Schachtboden weder altes Laub noch anderer Unrat zu finden gewesen waren, hatte Cyrion schon einiges vermuten lassen. Der Boden war beweglich, man konnte ihn in die Brunnenwand zurückgleiten lassen, um etwas von unten heraufzuziehen oder von oben abzuseilen. Unmittelbar unter dem falschen Boden, erweiterte sich der Schacht und wurde eins mit dem, was darunterlag.
    Der Gesang schlug wie Gischt gegen sein Gesicht. Er bemerkte einen unangenehmen, fischigen Geruch und dann den unverwechselbaren Duft von Weihrauch, der durch die steinerne Röhre zu ihm aufstieg. Plötzlich wurde das Licht aus dem Brunnen heller.
    Der Beobachter beugte sich vor und entdeckte lange goldene Fäden auf der schwarzen Wasseroberfläche und danach einen Keil aus Feuer. Das Schiff kam aus dem Nichts, aus dem unteren Rand des Brunnenschachtes. Das winzige Gespensterschiff, das der Sklave gesehen und sich damit zum Tode verurteilt hatte.
    Das Segel hatte die Farbe und die Größe eines herbstlich gefärbten Blattes. Fackeln brannten an Bug und Reling. Etwas bewegte sich auf Deck und eine Wolke aus parfümiertem Rauch schlängelte sich den Schacht empor, bis sie sich als duftender Nebel in dem Gang ausbreitete. Als der Nebel sich aufgelöst hatte, war das kleine Schiff verschwunden. Wie durch Zauberei.
    Natürlich war es kein Gespensterschiff. Daß es so klein wirkte, lag nur an dem Blickwinkel. Der Abstand zwischen dem oberen Teil des Brunnens und dem Boden der Höhle da unten, war derselbe wie der vom oberen Rand der Klippen bis zu ihrem Fuß. Die plötzliche Erweiterung des Schachtes unterhalb der Stelle, wo sich vorher der Steinboden befunden hatte, vermittelte den Eindruck, daß die Wasseroberfläche gleich darunterlag. In Wirklichkeit war es das Meer, das in ungefähr hundert Meter Tiefe den Boden der Höhle bedeckte. Außerdem hatte das Seil noch den Eindruck unterstützt, daß die

Weitere Kostenlose Bücher