Cyrion
mein Zimmer zu gehen? Du hast mein Wort, daß ich nicht fliehen werde. Wohin sollte ich auch gehen? Deine Wachen haben alle Ausgänge besetzt. Und auch wenn ich ihnen entkommen könnte, habe ich doch nicht genug Geld, um irgendwo Unterkunft zu finden. Wenn du willst, kannst du natürlich auch einen Wächter vor meine Tür stellen. Ich bin, das kannst du mir glauben, dieser ganzen Sache überdrüssig.«
Roilant sah sie an. Erschöpfung hatte an ihrer Schönheit gezehrt, und es war beinahe unmöglich, kein Mitleid mit ihr zu empfinden. Das konnte kaum gespielt sein. Sie sah aus, als hätte sie, ganz abgesehen von den Aufregungen dieses Tages, in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan.
»Natürlich«, sagte er. »Ein Wächter vor deiner Tür wird nicht notwendig sein. Ich bedaure, daß dies - ich bedaure -«
»Bedauern ist überflüssig«, unterbrach sie ihn. Und fügte dann mit einer schlichten Würde, die ihm das Herz abdrückte, hinzu: »Du bist sehr gütig.«
Sie verließ das Zimmer, und Roilant folgte ihr, um den Wachen am Brunnen zu sagen, daß sie sie nicht belästigen sollten. Das Sonnenlicht flimmerte auf ihrem Haar, als sie den Fuß der Treppe erreichte und dort einen Moment stehenblieb, weil sie bemerkte, daß der Orangenbaum in dem Kübel eingegangen war. Dann schritt sie mit der ihr eigenen Anmut die Stufen hinauf, und er sah eine abgelaufene Stelle in ihrer Schuhsohle. Selten nur war eine potentielle Mörderin so von ihrem Opfer bemitleidet worden.
In ihrem Zimmer angekommen, verriegelte Eliset die Tür. Sie fühlte sich völlig ausgebrannt und legte sich auf ihr Bett. Der Tod des Orangenbaumes war der letzte Tropfen in einem bereits vollen Becher gewesen.
Sie rechnete kaum noch damit, schlafen zu können, da die Ereignisse sie zu sehr aufgewühlt hatten, und lauschte zuerst nur den gewohnten und ungewohnten Geräuschen im Hof und außerhalb des Hauses - dem Meer, den Vögeln, dem Klappern eines Kruges, der am Küchenbrunnen gefüllt wurde - und dem gelangweilten Lachen eines der Wächter, die überall herumstanden, dem Schnauben ihrer Pferde (es weckte Erinnerungen an vergangene Zeiten), und ein- oder zweimal drang etwas von dem immer noch andauernden Streit zwischen Roilant und Mevary zu ihr herauf.
Und dann betäubte doch der Schlaf ihre Sinne, und alles rückte weit in die Ferne. Es gab nichts, was sie hätte tun können, und also ließ sie den Dingen ihren Lauf und ergab sich dem Vergessen.
Als sie erwachte, war es Nacht geworden. Die Sterne funkelten am Himmel, und der Mond ging auf - es mußte, überlegte sie, eine Stunde nach Sonnenuntergang sein. Die Droge Schlaf war zu verlockend gewesen.
Mit dem unruhigen Gefühl, daß sie etwas Entscheidendes verpaßt hatte, stieg sie aus dem Bett, entzündete die Kerzen und ging zur Tür. Ihre Hand lag schon auf dem Riegel, als sie innehielt. Das Durcheinander von Geräuschen war verstummt. Das Haus war beunruhigend still, als wartete es auf sie.
Ohne jede Vorwarnung klopfte es plötzlich leise an der Tür, und sie konnte kaum einen Schrei unterdrücken. Es dauerte einen Augenblick, bevor sie fragen konnte: »Wer ist da?«
»Roilant«, kam die geflüsterte Antwort.
Verblüfft richtete sie sich auf, die Hand immer noch auf dem Riegel, aber ohne ihn zu heben.
Wenn es Roilant war, ihr Eroberer, warum flüsterte er dann? Sie hatte plötzlich den albernen Gedanken, daß er heimlich gekommen war, um ihr zur Flucht vor ihm zu verhelfen. In einem Anfall eigentlich grundloser Belustigung kam sie zu dem Schluß, daß sie darüber hinaus war, sich um irgend etwas Sorgen zu machen, und hob den Riegel.
Die Tür öffnete sich, der weiche Kerzenschimmer strömte hinaus und hob die Gestalt des Besuchers aus der Dunkelheit.
Mit weit geöffneten Augen trat Eliset unwillkürlich drei Schritte zurück.
»Wer seid Ihr?« soufflierte der Besucher zuvorkommend, während er ins Zimmer trat und die Tür hinter sich schloß.
»Wer seid Ihr?« wiederholte Eliset gehorsam.
»Wie Roilant es vielleicht durchaus zutreffend erklärt haben mag, war die Person, die sich unter seinem Namen hier Zutritt verschaffte, ein Betrüger. Des Mannes wirklicher Name ist Cyrion. Ich bin Cyrion. Guten Abend.«
»Aber«, sagte sie.
»Aber. Ihr müßt bedenken, daß ich, abgesehen von den bejammernswerten Haaren, nicht mehr verkleidet bin.«
Er lehnte lässig an der geschlossenen Tür, und die Kerzen vergoldeten ihn und die jetzt zu groß wirkenden Kleider, an die sie sich aus ihrer
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