Cyrion
Augenblick später kam Mevary aus dem Küchenhof. Cyrion war längst nicht mehr zu sehen. Er blieb auch unsichtbar, als Mevary, nachdem er sich überzeugt hatte, daß der Weg in die Höhle offen war (ein Versehen, das Cyrion als überaus günstig empfunden hatte; denn da er den Mechanismus nicht kannte, der die Bodenplatte in dem Brunnenschacht bewegte, hätte er sonst wieder zu Gerris’ Grab hinaufsteigen müssen), sich in den Brunnen schwang.
Das Badehaus war ein wirklich günstiges Versteck. Cyrion blieb noch ein Weilchen, bis die Mevary so ergebene Dame nach einigen unbehaglichen Blicken den Gang entlanggeeilt und ebenfalls in dem Brunnenschacht verschwunden war.
Cyrion ließ ihnen einen ausreichenden Vorsprung, bevor er sich an die Verfolgung machte.
6. Kapitel
In der düsteren Höhle glühten immer noch die Feuer und kündeten von der Anwesenheit der unterirdischen Bewohner.
All das hatte Cyrion schon gesehen und sogar noch mehr. Ungefähr sechs Meter über der Wasseroberfläche und genau unter dem Felsband, auf dem er bei seinem ersten Besuch gelandet war, wölbte sich der Fels nach innen. Durch eine Laune der Natur war der balkonartige Vorsprung aus übereinandergestaffelten Gesteinsschichten erhalten geblieben. Unter diesem Überhang senkte sich ein halbmondförmiger Uferstreifen zu dem Meerwasserteich in der Höhle hinab.
Der Weg zu diesem Strand, wie überhaupt zu dem schmalen Band, das mehr oder weniger eben die gesamte Wasserfläche einfaßte, führte durch Gänge im Fels, die vor vielen hundert Jahren entweder vom Meer ausgewaschen oder von Menschenhand angelegt worden waren. Den Eingang zu diesen Gängen bildeten die Wohnungen der Hexen.
Bei seinem ersten Erkundungsgang hatte Cyrion einen solchen Gang entdeckt. Vor der betreffenden Höhle brannte kein Feuer, und ein Teil des Weges lag in geheimnisvollem Dunkel, aber schon bald verriet ein bleicher Lichtschimmer den Ausgang. Ein Knochenhäufchen in einem mit Stockflecken übersäten Gewand stellte vermutlich die frühere Besitzerin dar. Anscheinend war es bei den Verehrerinnen der Meeresgöttin nicht Sitte, die Toten zu begraben.
An dem Uferstück, zu dem die Gänge an dieser Seite der Höhle führten, lag das Gespensterschiff, wie Cyrion schon vermutet hatte.
Das rote Segel, das an manchen Stellen so dünn wie Spinnweben war, hing an den Rahen. Es wäre wohl auch kaum möglich gewesen, es einzuholen; denn so, wie es aussah, mußte es schon bei der kleinsten Berührung zerreißen. Die Ruder waren einfach an die Schiffswand gelehnt. Es war ein sehr altes Schiff, verkrustet, zerfressen, narbig, fast ein Wrack, das man vor Jahrhunderten vom offenen Meer hier herein geschafft hatte.
Daß es leckte, konnte man als sicher annehmen. Ebenso, daß es für irgendwelche Rituale benutzt wurde. Die Fackeln steckten in ihren Halterungen und wirkten so frisch und sauber getrimmt wie sonst nichts. Segel und Holz waren von Rauch dunkel gebeizt. Ein Ölkrug stand auf Deck, ein alltäglicher Gegenstand, der hier völlig fehl am Platze war. Andere Dinge lagen bei einem Klotz aus allem Anschein nach versteinertem Holz am Bug. Sie paßten sehr viel besser in das Gesamtbild; denn bei ihrem Anblick dachte man an magische Zeremonien, die mit Blutvergießen zu tun hatten - grausame Messer aus Stein, steinerne Gefäße, auf die in groben Umrissen ein Fisch gemalt war, der gleichzeitig ein Auge darstellte. Das Zeichen der Göttin des Meeres?
Vorher war der Platz neben dem Schiff leer gewesen. Das hatte sich geändert.
Ein Feuer brannte am Ufer, das man mit Hilfe von Öl und Zunder aus Treibholz entzündet hatte. Um die spuckenden und zischenden Flammen, die manchmal bläulich oder hellgrün aufzuckten, hockte eine Gruppe alter Frauen.
Es waren zwischen siebzehn und zwanzig von ihnen. Sie genau zu zählen, war schlicht unmöglich; denn obwohl sie von unterschiedlicher Größe und Körperhaltung waren, wirkten sie alle gleich ausgemergelt und trugen die gleichen schmutzigen Gewänder, die wohl die Tracht ihres Ordens darstellten. Unter den Kapuzen schlängelten sich schmutzigweiße oder schmutziggraue Haarstränen, bei manchen allerdings nicht, was auf eine Glatze schließen ließ. Aus dem Rahmen von Kapuze und Haar stachen die Gesichter hervor wie die Köpfe von Schildkröten aus dem Panzer oder lagen unsichtbar im Schatten der Kopfbedeckung.
Vor dieser Gruppe stand eine, die nur ihre Führerin sein konnte. Sie trug keine Kapuze und stellte hochmütig den ganzen
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