Cyrion
reichsten Aristokraten der Stadt wählen konnte, hatte diese verschmäht und Radri den Vorzug gegeben. »Sie sind Schoßhunde«, hatte Marival beteuert, »Äffchen, zu nichts anderem gut, als Sahne aus einer Schüssel zu lecken. Beim Anblick von Blut fallen sie in Ohnmacht. Sie denken an nichts anderes, als an das neueste Liebeslied. Sie haben so viel Kraft wie eine welke Blume. Aber du«, flüsterte sie Radri ins Ohr,
»bist stark wie ein Löwe. Du bist ein Mann.«
»Du bist ein Lügner!« heulte Jolan an dieser Stelle. »Schon wieder besudelst du den Namen meiner Schwester mit deinen absurden und schmutzigen Hirngespinsten.«
»Ihren Namen besudeln? Sie hatte mich in ihrem Bett und nicht nur in ihrem Bett«, brüllte Radri. »Sie konnte den Hals nicht vollkriegen. Sie lachte über die anderen, wie sie auch über dich lachte. Alles war in Ordnung, solange ich dein Freund war, Fürst Jolan, aber als ich mich ihr zuwandte - welcher Mann hätte das nicht getan -, lief der Hase plötzlich anders. Ich habe mich oft gefragt«, knurrte er, »wen du mehr beneidet hast: mich, weil ich Marival besaß, oder Marival, weil sie mich besaß.«
Jolan, das Gesicht so gelb wie das Haar, umkrampfte den juwelenbesetzten Dolch in seinem Gürtel, ließ die Hand aber resignierend wieder sinken.
»Soll er weiterreden«, murmelte er. »Meine Stunde wird kommen.«
Mit einem herzhaften Fluch setzte Radri seinen Bericht fort.
Er sagte, daß Jolan, angetrieben von derselben perversen Besitzgier, von der er eben eine Kostprobe gegeben hatte, schließlich auf den Gedanken kam, seine gesamte Familie im Haus einzuschließen. Dafür hatte er sich irgendeinen verrückten Vorwand ausgedacht. Mach einiger Zeit verließen die Diener das Anwesen, zermürbt von der Besessenheit, die immer mehr von Fürst Jolan Besitz ergriff. Daraufhin schloß Jolan die Tore und verriegelte die Türen. Es schien geraten, ihn gewähren zu lassen. Sabara hatte sich zurückgezogen, wie es ihre Gewohnheit war; Naldinus hatte sich in seine wissenschaftlichen und religiösen Studien vertieft. Jolan hatte abwechselnd getobt und Trübsal geblasen. Was Marival und Radri betraf, so hatten sie einander und vertrieben sich die Zeit mit immer neuen Liebesspielen. Schließlich aber hatte einer von Jolans Plänen schwarze Frucht getragen. Er hatte seine ältere Schwester bestürmt, mit einem ganz besonders adligen Schlappschwanz aus der Stadt die Ehe einzugehen. Da sie unter der Munt ihres Bruders stand - er war das Oberhaupt der Familie -, wurde Marival kleinmütig. An dem betreffenden Nachmittag war sie lustlos und gereizt und wehrte sich gegen Radris Zärtlichkeiten mit der Bemerkung, daß sie sich daran gewöhnen müsse, ohne das Glück seiner Umarmung zu leben, ihr Bruder habe es so bestimmt. Es hatte einen Streit gegeben, der zu guter Letzt damit endete, daß Marival sich doch in Radris starke Arme warf und ihn bat, sie aus diesem Haus zu befreien, das ein Gefängnis geworden war. Radri, obwohl es ihn hart ankam, das Vertrauen seines früheren Herrn zu mißbrauchen, stimmte endlich zu. Unter leidenschaftlichen Treueschwüren hatten die Liebenden sich getrennt, nachdem sie vereinbart hatten, in der Nacht, wenn alles schlief, das Wagnis zu unternehmen. Radri sollte die Tore aufbrechen und er und seine Liebste konnten in ein neues Leben fliehen, dem Reichtum entsagend, aber geborgen in ihrer Liebe.
Als er Marival verließ, berichtete Radri weiter, hatte er das ungute Gefühl, daß ihr Plan vielleicht belauscht worden war. Auf dem Gang begegnete er der Lady Sabara, die ihm zu verstehen gab, sie sei auf dem Weg in das Zimmer ihrer Schwester. Radri hielt es aber für möglich, daß Sabara an Marivals Tür gelauscht hatte, dann in ihr Zimmer flüchten wollte, es aber nicht mehr erreichen konnte, ohne von ihm, Radri, entdeckt zu werden. Also war sie umgekehrt, um den Eindruck zu erwecken, sie wäre eben erst auf den Gang hinausgetreten. Sabara hegte einen natürlichen und beständigen Haß gegen ihre Schwester wegen deren großer Schönheit und ihrer Macht über alle Männer, während sie mit ihrer Lesewut und ihren hochnäsigen Ansprüchen keinen einzigen Verehrer aufzuweisen hatte. Andererseits war es immer noch besser, von Sabara belauscht zu worden zu sein, als von Jolan. Radri hatte alle Bedenken beiseite geschoben und sich darangemacht, seine Flucht mit Marival vorzubereiten. Aber während sie an diesem Abend zu Tisch saßen, hatte Marival plötzlich nach Atem gerungen, sich
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