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Cyrion

Cyrion

Titel: Cyrion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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Mauer, um einen Blick auf den Weisen zu werfen. Der Meister Provinzial war noch völlig angekleidet; seine nervöse Wachsamkeit hatte ihm den Schlaf auf seiner harten Pritsche versagt.
    »Der alte Bursche hat eine Vision gehabt, behauptet ihr?« fragte er. Er machte nicht eben den Eindruck eines Mannes, der sich zu umherziehenden Epileptikern hingezogen fühlte, aber vielleicht war er an einem Punkt angelangt, an dem er nach jedem Strohhalm griff.
    Der heilige Mann jedenfalls fühlte sich bemüßigt, auf die Frage zu antworten.
    »Mir wurde das Schicksal des Großmeisters Hulem offenbart«, schrie er mit einer Lautstärke, die auf überraschend kräftige Lungen schließen ließ.
    »Tatsächlich?« Der Meister Provinzial wandte sich an den Hauptmann der Wache. Leise sagte er: »Gütiger Himmel, könnte es sein, daß dieser Greis gesandt wurde, um uns zu helfen? Man hat uns gelehrt, nie ein Zeichen zurückzuweisen, ganz gleich, wie unbedeutend es scheinen mag. Und steht nicht geschrieben: Gott der Herr sieht selbst das Haar, das von deinem Haupte fällt -« Der Hauptmann nickte. Ein Befehl wurde erteilt, die Tore der Festung geöffnet und das Fallgitter aufgezogen.
    Der Weise schritt hindurch und wurde von Rittern umringt. Die Dörfler wurden zurückgeschickt und fluchten vor Enttäuschung.
    Sorgfältig bewacht, was er aber nicht zur Kenntnis nahm, wurde der unappetitliche heilige Mann durch den äußeren Bezirk der Festung geführt, durch das innere Tor, eine Treppe hinauf und stand schließlich in dem Privatzimmer des Meisters Provinzial.
    Zweifellos mußte dieser Raum auf einen heiligen Mann, der nichts anderes kannte, als die kargen Höhlen und Oasen der Wüste, Eindruck machen. Und um gerecht zu sein, er paßte auch nicht so recht zu den kahlen Zellen der niederen Ränge. Gobelins und Teppiche hingen an den Wänden. Auf einem Ständer lag aufgeschlagen ein geistliches Buch, herrlich geschmückt mit farbigen Bildern und juwelenbesetzten Spangen, die im Feuerschein glitzerten, wie auch die Schwerter und Schilde in den Regalen.
    Der Meister Provinzial trank Wein aus einem ziselierten Silberkelch und musterte den zweiten ungeladenen Gast dieses Abends.
    »Nun gut, Herr. Berichtet mir von Eurer Vision.«
    Der heilige Mann ließ sic h nicht einschüchtern. Er räusperte sich ungeniert und spie auf die Binsen, mit denen der Boden ausgelegt war.
    »Ich werde dem Großmeister berichten.«
    »Ich spreche für den Großmeister.« »Und ich spreche für Gott.«
    »Tut Ihr das, wahrhaftig?« Das Gesicht des Meisters Provinzial hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen. »Ihr wollt behaupten, Gottes Sprachrohr zu sein?«
    »Sprachrohr und Schwert.«
    Der Meister Provinzial hielt für einen Augenblick den Atem an. Seine Wangen wurden bleich.
    »Das solltet Ihr besser erklären.«
    »Das Schwert schlechter Nachrichten für Hulem. Wir sind allein. Ich habe nachgedacht und mich entschlossen, Euch zu vertrauen. Euer Großmeister wird heute nacht sterben, und niemand kann es verhindern. Aber auf Euch warten Ruhm und Macht. Euer Stern erhebt sich, während Hulems untergeht.«
    »Das sind harte Worte«, sagte der Meister Provinzial. Seine Stimme zitterte ein wenig, aber er hatte sie rasch wieder unter Kontrolle. »Ihr solltet doch besser den Großmeister aufsuchen - ich habe nicht die Autorität, über Euch zu entscheiden.«
    Mit einer eckigen Bewegung schob er einen Vorhang beiseite und klopfte gegen die dahinter befindliche Mauer. Die Mauer schwang zurück und gab den Blick auf eine schmale Treppe frei.
    »Diese Stiege verbindet mein Zimmer mit den Gemächern des Großmeisters. Es ist der kürzeste Weg.«
    »Solltet Ihr nicht«, murmelte der Weise einschmeichelnd, »zuerst nachsehen, ob ich unter meinen Kleidern nicht irgendwelche tödlichen Waffen verberge?«
    Der Meister Provinzial wand sich bei dem Gedanken, das unerhört schmutzige Gewand des heiligen Mannes zu berühren, und wer wollte ihm das verübeln.
    »Ich habe viele Eures Glaubens gesehen. Sie tragen keine Waffen.«
    »Nein, das steht fest. Sie tragen keine Waffen.«
    Der Meister Provinzial stieg die Treppe hinauf, der Weise schlich hinter ihm her. Eine feste Tür bildete den Abschluß der Treppe. Der Meister schlug dreimal mit der Faust dagegen und rief durch die Balken: »Großmeister, ich bin es, der Meister Provinzial.«
    Eine metallische Stimme antwortete mit einem einzigen Wort: »Wartet«. Sekunden später wurden drinnen ein Riegel zurückgeschoben, und die

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