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Cyrion

Cyrion

Titel: Cyrion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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sie verschwunden waren und das Geräusch der Hufschläge verklang, setzte er sich wieder an das Feuer. Dort begann er, auf die Bitten der Leute hin, die sich nach und nach um ihn versammelt hatten, seine Lehre darzulegen. Die Lehre entpuppte sich als eine faszinierende Nacherzählung der fremdartigen Gleichnisse der Wüste, der Mythen dieses uralten, von Löwen durchstreiften Landes. Und während der alte Mann sprach, bekam seine grobe, rauhe Stimme einen hypnotischen Klang.
    Als die Ritter zurückkamen und das weiße Pferd zur Festung hinaufbrachten, blickten die Leute am Feuer ihnen nach und flüsterten, und der heilige Mann unterbrach seinen Monolog. Als die letzte Fackel unter dem Tor verschwunden war, schrie er seine Zuhörer an und verlangte zu wissen, was in Klove vor sich ging. Aus Achtung vor seiner Berufung und weil sie sich die Angst von der Seele reden wollten gehorchten sie.
    Klove befand sich im Krieg, in gewissem Sinne wenigstens. Im Krieg, Taubenloge gegen Taubenloge, mit den Weißen Reitern von Heruzala. Wie gewöhnlich, war es eine geheime Angelegenheit, aber der Grund war ein Akt der Gnade, den der Großmeister Hulem vor einem Monat vollbracht hatte, als ein Dieb um sein Leben flehte. Davon hatte man in Heruzala erfahren. Die Tat, die man dem Großmeister als fatale Schwäche auslegte, sollte mit Hulems Tod unter dem Schwert eines auserwählten Ritters der Loge gesühnt werden.
    Diese Assassinen, die durch Magie auf ihre Aufgabe vorbereitet wurden, waren wie denkende Maschinen, und es gab keine Möglichkeit, sie abzulenken. Seit sein Urteil gesprochen worden war, saß der unglückliche Hulem bedrückt in der Festung und erwartete den Rächer mit verschlossenen Toren.
    Und draußen wartete das Dorf, voller Angst vor einer rücksichtslosen Vergeltung an ihnen selbst. Die Poststationen in dieser Gegend, die Hulem treu ergeben waren, hatten geschworen, ihn zu warnen, indem sie besonders beringte Vögel aussandten, zum Zeichen, daß der Mörder sich näherte. Aber nicht ein einziger Vogel war eingetroffen. Nach Aussage des Mannes, der am frühen Abend in das Dorf gekommen war, mußte man wohl davon ausgehen, daß alle Stationen niedergebrannt worden waren. Glücklicherweise hatte Klove durch eben diesen Fremden erfahren, daß die Gefahr sich näherte. In der Festung hatte man einen Plan, wie man sich des Assassinen entledigen wollte: Da ein solcher Mann nach dem vorbereitenden Ritual weder Schmerz noch Wunden spürte und deshalb von Schwert, Lanze oder Pfeil nicht aufgehalten werden konnte, hatte man vor, kochendes Pech auf ihn hinabzuschütten. Selbst ein durch das Ritual geschützter Ritter konnte einen solchen Anschlag nicht überleben.
    Der alte, heilige Mann schien ein Lächeln zu unterdrücken.
    »Angenommen«, gab er zu bedenken, »der verschlagene Mörder rechnet mit einer solchen Maßnahme. Wird er sich nicht irgendwie davor zu schützen wissen?«
    »Aber«, protestierten die Leute, »er muß hier herkommen und wird folglich auch gesehen werden. Wie könnte ein solcher Mann unbemerkt bleiben, in seinem Kettenhemd aus Stahl und dem weißen Überwurf; auch wenn er kein Pferd bei sich hat?«
    »Allerdings, wie könnte er«, meinte der heilige Mann. Das Kinn in seinem zerrissenen Gewand vergraben, verbarg er jetzt ganz eindeutig ein Lächeln.
    Bald darauf hatte der heilige Mann einen Anfall. Einen recht beeindruckenden. Er fiel auf der Straße, schlug wild um sich und schäumte beträchtlich. Die Leute zogen sich respektvoll zurück und beobachteten in beifälligem Erschrecken dieses Schauspiel heiliger Besessenheit. Schließlich war der Anfall
    vorbei und der heilige Mann richtete sich auf.
    »Ich muß in die Festung«, sagte der heilige Mann in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Der Himmel hat mir das Schicksal des Großmeisters Hulem offenbart.«
    Das Dorf Klove, taumelig und benommen durch viele schlaflose Nächte, Angst und Geschichtenerzählen, beschloß, daß dem Willen des Himmels Folge geleistet werden müsse.
    Unter dem schwarzen, kalten Himmel einer Wüstennacht, der dicht an dicht mit Sternen betupft war, begleiteten die Dörfler den heiligen Mann zu den Toren der Burg.
    Es folgte ein Wortwechsel zwischen Dorfbewohnern und Wächtern.
    Der heilige Mann saß auf dem Boden und trug Geringschätzung zur Schau, schmutzig, erhaben, schweigend.
    Mitten in dem Geschrei erschien der Meister Provinzial auf den Zinnen, drängte sich durch Männer und Fackeln und lehnte sich über die

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