Cyrion
erwiderte sie sehr leise. Sie war das Abbild unterwürfiger Demut und flehte ihn nur stumm an, ihr sein Mitleid und seine Hilfe nicht allzu unverblümt anzubieten. Selbst jemand wie Roilant hätte in diesem Moment den Drang verspüren können, sie zu schlagen. Aber so etwas riskierte man nicht bei einer Hexe, wenn man noch alle seine Sinne beisammenhatte. Er faltete die Hände hinter dem Rücken und folgte ihr ins Haus, während der Diener mit dem Gepäck hinter ihnen herkeuchte.
Der Eingang - eine Art Tunnel, an dessen von Graswurzeln zersprengtem Mauerwerk keine Spur mehr von den früheren Wandmalereien zu erkennen war, und in den der Wind Sand und allerlei anderen Unrat hineingetragen hatte - führte geradewegs in den zweiten, inneren Hof, der von Haupthaus und Seitenflügel eingefaßt wurde.
Als Roilant im Alter von fünfzehn Jahren Flor besucht hatte, waren die Springbrunnen noch tätig gewesen, wenn auch nur zeitweilig. Jetzt war in den Bassins ein Sumpf aus brackigem Wasser und wucherndem Moos. Jeder Windhauch wirbelte raschelnd das dürre Laub auf, das den Boden bedeckte, und ein einzelner, kümmerlicher Orangenbaum wuchs neben der Steintreppe, die zum oberen Stockwerk und von dort zum Dach hinaufführte. Pfosten aus geschnitztem Elfenbein hatten einst das Dach der Veranda gestützt, die das obere Stockwerk umlief. Jetzt waren viele davon zerbrochen oder fehlten ganz.
»Sieh nicht hin«, sagte sie. »Ich tue es auch nie. Ich habe versucht, es so in Erinnerung zu behalten, wie es einmal war.«
Ein dicker und ältlicher Mann, wahrscheinlich ein Sklave, kam aus dem Durchgang gewatschelt, der zur Küche und den Sklavenunterkünften führte. Bei seinem Anblick drängte sich die Frage auf, wie es ihm gelungen war, sein stattliches Bäuchlein zu behalten.
»Jobel«, rief Eliset, »richte ein Bad für Fürst Roilant. Danach bringst du den Wein.«
Der fette Sklave grunzte unbehaglich und setzte sich zögernd in die angegebene Richtung in Bewegung, dabei schaute er aber immer wieder über die Schulter zurück, als hoffte er, von diesem Auftrag entbunden zu werden.
»Ich nehme an, es wird eine Zeitlang dauern?« erkundigte sich der Verursacher dieses unwillkommenen Aufwands.
»Ich fürchte schon. Die du gesehen hast, sind die einzigen Diener, die wir haben, die Jungen, der Sklave. Und ich habe eine Zofe - ein Luxus, den Mervary für mich beschafft hat; ich brauche sie nur selten. Sie muß ein schweres Leben gehabt haben.«
»Mervary hat sie beschafft -«, der angefangene Satz - er endete: beschafft womit? - war heraus, bevor er es noch recht merkte. Roilant schaute verstört, oder vielleicht fühlte er sich auch unbehaglich.
Eliset öffnete den Mund zu einer Antwort, als eine harte Männerstimme von oben auf sie herniederfiel wie ein loser Dachziegel.
»Was für ein Kleinigkeitskrämer du noch immer bist, Cousin Pudding. Ich hab’ sie nicht mit Geld beschafft. Ich gewann sie beim Würfeln einem Maultiertreiber ab, der sie sich als Dienerin hielt und sie peitschte wie seine Maultiere, wenn er darauf reiten wollte.«
Der Kopf mit dem rötlichgelben Haar hob sich augenblicklich, und die vorstehenden Augen musterten den jungen Mann, der sich einigermaßen leichtsinnig auf ein Stück des verbliebenen Balkongeländers stützte und im wahrsten Sinne des Wortes auf ihn herabsah.
Mevary von Beucelair und Flor konnte sich eines sehnigen, kraftvollen Körpers rühmen und sonnte sich in dem Glanz seiner gesunden Sonnenbräune, seiner walnußbraunen Haare und gelben Wolfsaugen. Auch seine Kleider hatten einen gesunden Glanz. Jetzt wurde ersichtlich, wofür ein Teil von Roilants jährlicher Zuwendung ausgegeben worden war.
Eliset lachte.
»Mevary, komm herunter und sei höflich. Die Entfernung hat deinen Blick getrübt. Unser Cousin ist kein kleiner Junge mehr, sondern ein großer, starker Mann.«
»Für mich sieht er so aus wie immer«, antwortete Mevary.
Er schlenderte lässig zu einer Stelle, wo das Geländer schon vor längerer Zeit seinen Abschied genommen hatte und sprang zu Boden wie eine große, braune Felskatze, geschmeidig und mühelos. Eliset schlug die Hände zusammen und lachte hell.
»Oh, ist er nicht klug?« fragte sie den Dritten im Bunde, der sich unzweifelhaft in seinem ganzen Leben nie an solchen Kunststückchen versucht hatte - wozu man ihn nur beglückwünschen konnte, denn er hätte sich doch nur den Hals gebrochen.
»Sehr.«
»Und du«, bemerkte Mevary herausfordernd, »bist du klug, Cousin
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