Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin
all das abnahm, womit sie sich überfordert fühlten. Dies hatte über viele Jahre verdeckt, dass sie nie erwachsen geworden waren.
Oft kamen die Patienten auch deshalb zu mir, weil sie von ihren erwachsenen Kindern enttäuscht und der Meinung waren, die meldeten sich zu wenig. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass sie an ihre Kinder wiederum eher die Erwartungen hatten, die man als Kind an seine Eltern hat, nicht die, die man als Eltern vernünftigerweise an erwachsene Kinder hat.
Hin und wieder erzählen mir meine Patienten, dass sie ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren alten Eltern haben. Natürlich ist es in Ordnung, wenn man den Wunsch hat, jemandem etwas zurückzugeben, von dem man selbst viel bekommen hat. Bei dieser Sorte von schlechtem Gewissen handelt es sich allerdings um eine ganz spezielle Art von Gefühl. Es ist kein Gefühl, das ein Erwachsener gegenüber einem anderen hat, sondern eher ein Schuldgefühl, das ein Erwachsener gegenüber einem vernachlässigten Kind hat, für das er verantwortlich ist.
Ein Beispiel aus dem therapeutischen Alltag, das diese Art von Gefühlen gegenüber Eltern illustriert, die innerlich Kinder geblieben sind: Eine Patientin erzählt, dass sie nicht weiß, wie sie mit dem schlechten Gewissen umgehen soll, das sie häufig der verwitweten Mutter gegenüber plagt. Vor einigen Tagen hatten sie und ihr Mann Hochzeitstag, und sie unternahmen einen Ausflug in die Stadt, in der sie sich kennengelernt hätten. Es sei ein wunderschöner Tag gewesen. Doch sei es ihr nahezu unerträglich gewesen, sich von der Mutter zu verabschieden. Sie habe sich ausgesprochen gemein gefühlt, dass sie die Mutter nicht gebeten habe, mitzukommen.
»Nicht, dass Sie mich falsch verstehen«, sagt die Frau. »Meine Mutter hat uns einen schönen Tag gewünscht, und sie stellt nie irgendwelche Forderungen an mich. Warum habe ich nur immer diese Schuldgefühle?«
Aus der Beziehung von Mutter und Tochter, die sehr gut ist, lässt sich dieses Gefühl nicht erklären. Auch das Verhältnis zwischen der Mutter und dem Mann der Patientin ist herzlich. Die Therapeutin bittet die Patientin, etwas von der Lebensgeschichte der Mutter zu erzählen. Die Großmutter der Patientin war gestorben, als die Mutter noch ein Kleinkind war. Aber die Mutter wuchs dennoch zu jemandem heran, der sein Leben meisterte. Ein Teil von ihr hatte sich allerdings nicht weiterentwickelt. In ihr war stets noch das kleine Mädchen, das seine Mutter verloren hatte. Und obwohl die Patientin Stein und Bein schwor, ihre Mutter sei ein Mensch, der nie absichtlich jemand ein schlechtes Gewissen mache, spürte sie unbewusst dieses kleine, traurige Mädchen, und ihr Gefühl der Mutter gegenüber war in solchen Situationen wie der beschriebenen immer das einer Mutter, die einem Kind einen sehnlichen Wunsch abschlägt.
Man könnte annehmen, dass Psychotherapeuten von Eltern erwarten, Übermenschen zu sein. Das tun sie ganz gewiss nicht. Den Fachbegriff für das, was die Therapeuten sich wünschen, prägte der englische Kinderarzt und Pychoanalytiker Winnicott. Er lautet: the good enough mother. Etwas holprig aus dem Englischen übersetzt heißt das: die ausreichend gute Mutter. Nicht die perfekte. Die schon gar nicht. Ich habe einmal einen Familientherapeuten sagen hören, perfekte Eltern seien das Schlimmste, was man einem Kind antun könnte.
Was also ist eine ausreichend gute Mutter? Fangen wir mit dem einfachen Modell an und kommen dann zur Mutter mit Luxussonderausstattung. Zunächst einmal ist eine ausreichend gute Mutter eine, die ihr Kind nicht hasst. Zumindest nicht grundsätzlich. Alle wirklich hervorragenden Mütter, die ich kenne, die wunderbare, glückliche und ihr Leben gut bewältigende Kinder großgezogen haben, haben irgendwann den Gedanken gehabt: Ich könnte sie beziehungsweise ihn an die Wand klatschen.
Erstaunlicherweise scheint das geradezu ein Merkmal guter Eltern zu sein. Allerdings waren diese Impulse vorübergehender Natur, traten nicht allzu häufig auf und wurden vor allem nie umgesetzt, ja nicht einmal vor den Kindern ausgesprochen. Da haben wir wieder die Sache mit der Impulskontrolle, die bei einem Erwachsenen einigermaßen wünschenswert ist.
Nicht alle Kinder sind Wunschkinder. Kämen Kinder nur dann auf die Welt, wenn sie geplant sind, wäre die Menschheit längst ausgestorben, das wissen wir alle. Die ausreichend gute Mutter macht das Kind jedoch nicht für Entscheidungen verantwortlich, die
Weitere Kostenlose Bücher