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Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin

Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin

Titel: Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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gelungen ist, einen glücklichen, selbstbewussten Menschen aus unserem Patienten zu machen. Sie haben es so gut gemacht, wie sie konnten.
    Bevor wir zurück zum Thema »unreife Eltern« kommen, erst einmal zur Frage, was »reif sein« überhaupt bedeutet und was es heißt, erwachsen zu sein.
    Ganz bestimmt bedeutet es nicht, aufs Spielen verzichten zu müssen, aufs Schmusen, aufs Neugierigsein, eben auf all das, was eine glückliche Kindheit ausmacht.
    Die überzeugendste Definition, die ich bisher gehört habe, lautet: Erwachsensein bedeutet, für sich selbst und andere Verantwortung übernehmen zu können.
    Erwachsensein bedeutet auch, imstande zu sein, seine Impulse zu kontrollieren. Für einen Dreijährigen scheint die Welt zusammenzubrechen, wenn er sich in einen Schokoriegel verliebt und ihn nicht bekommt. Unter Umständen wirft er sich im Supermarkt auf den Boden, trommelt mit Händen und Füßen und schreit, als gehe es tatsächlich um etwas Ernstes. Von Erwachsenen erwarten wir, dass sie dergleichen unterlassen, selbst wenn es nicht nur um einen Schokoriegel geht, sondern um etwas wirklich Lebenswichtiges. Ein neues iPad zum Beispiel.
    Denken dürfen Sie, was Sie wollen. Und ja, man darf seinem Chef oder seinem bösen Nachbarn gegenüber (vor allem, wenn er ein frauenfeindlicher, rechtsradikaler, verklemmter Vollpfosten ist) durchaus unfreundliche Gedanken hegen und sich vielleicht in seiner Fantasie auch einmal genüsslich das eine oder andere Szenario zu seinen Ungunsten ausmalen. Wenn Sie sich allerdings immer wieder zu wütenden Beschimpfungen hinreißen lassen, müssen Sie an Ihrer Impulskontrolle arbeiten. Und wenn Sie ihm schon einmal Fäkalien in den Briefkasten gesteckt haben, müssen wir wohl das ganze Kapitel mit dem Erwachsensein noch einmal wiederholen. Oder schreiben Sie es in diesem Fall besser hundertmal ab.
    Unreife Eltern sind irgendwo auf dem Weg zum Erwachsensein stecken geblieben. Oft in der Pubertät. Und sie sind nicht imstande, die Aufgaben zu übernehmen, die mit dem Elternsein üblicherweise einhergehen.
    Im Zug saß kürzlich eine Mutter mit ihrem etwa elfjährigen Sohn vor uns. Schon nach kurzer Zeit stellte sich heraus, wer hier in Wahrheit das Kind und wer das Elternteil war. Der Sohn versuchte, ruhig und diplomatisch eine Eskalation zu vermeiden, und man merkte ihm die Erfahrung darin deutlich an. Währenddessen provozierte die Mutter ihn pausenlos. So nannte sie verschiedene Gewässer und ließ ihn raten, ob es sich um einen See oder einen Fluss handelte. Lag er richtig, entlockte ihr das lediglich ein wenig begeistertes Knurren oder die Bemerkung: »Naja, ein Glückstreffer.« Lag er falsch, hieß es: »Was, das weißt du nicht? Du bist ja blöd!« Das alles im Ton einer älteren Schwester, die sich darüber ärgert, dass sie auf den kleinen Bruder aufpassen soll und die ihn deshalb piesackt.
    Viele unreife Eltern verhalten sich eher wie genervte, missgünstige oder sadistische ältere Geschwister. Da wird dem Kind (und ich bin ganz bestimmt keine, die der Verwöhnung das Wort redet) beispielsweise versagt, ein Instrument zu erlernen, weil man das selbst früher auch nicht durfte. Es gibt aber auch Väter, die es lustig finden, den Kopf des kleinen Sohnes zwischen ihre Beine zu klemmen und ihm ins Gesicht zu furzen.
    Nicht alle unreifen Eltern sind in der Pubertät hängen geblieben. Bei manchen steckt im Körper eines ausgewachsenen Menschen eine kleine, verletzte Kinderseele. Für andere ist das nicht unbedingt sichtbar. Diese Menschen können im Alltag unauffällig funktionieren, eine Ausbildung machen, einen Partner finden, sich fortpflanzen. Und trotzdem sind sie tief in ihrem Inneren Kinder geblieben.
    Ich habe mit älteren Patientinnen gearbeitet, die erst nach dem Tod ihres Mannes in eine Krise gerieten, depressiv wurden und eine Psychotherapie aufsuchten. Es zeigte sich, dass sie überfordert waren damit, ihr Leben zu gestalten. Natürlich ist es mehr als begreifbar, dass es schwer ist, den Verlust des Menschen zu verarbeiten, mit dem man etliche Jahrzehnte zusammengelebt hat.
    Allerdings war das nicht der Kernpunkt der Probleme. Diese Menschen fühlten nicht den Schmerz, den jemand empfindet, dessen Partner gestorben ist, sondern den eines Kindes, das seine Eltern verloren hat. Nachdem sie das Elternhaus verließen, hatte der Partner die Rolle der Eltern übernommen. Er hatte dafür gesorgt, dass sie nie allein waren, dass sie nie Angst haben mussten, weil er ihnen

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