Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin
mit einem besonders auffallenden Motiv anzufangen. Beide Vorgehensweisen sind in Ordnung und führen dazu, dass mit der Zeit ein vollständiges Bild entsteht.
Was der Patient erzählt, muss nicht ordentlich sein. Wir sind Seelenklempner, nicht Steuerprüfer.
Oh, hoppla, unser Patient beginnt gerade zu weinen. Gleich in der ersten Sitzung! Man merkt, er findet es äußerst unangenehm, dass ihm das passiert. Bei einem Wildfremden!
Besonders peinlich ist das oft Menschen, bei denen sich von jeher alles innerhalb der Familie abgespielt hat, wo es wenig Außenkontakte oder gar Freundschaften gab. In solchen Familien gibt es das Tabu, dass man mit Außenstehenden – sprich: mit jemandem, der kein Familienmitglied ist – nicht über Persönliches redet.
Selbst wenn der Patient inzwischen durchschaut hat, dass diese Familienregel ihm nicht gutgetan hat, findet er es trotzdem beschämend, vor Fremden zu weinen. Dafür gibt es keinen Grund, so wenig es einem beim Arzt peinlich sein muss, wenn er Körperteile sieht, die man normalerweise bedeckt hält. Ganz im Gegenteil.
Zum Glück hat unser Therapeut bereits Taschentücher auf dem Tisch liegen, die signalisieren: Hier darf man das. Wenn er erst aufstehen und in einem Nebenzimmer danach suchen müsste, zurückkäme und sagte, es seien keine im Haus, bekäme der Patient das Gefühl, sein Weinen sei die absolute Ausnahme und eigentlich dürfe so etwas gar nicht vorkommen.
Nein, es ist keine Ausnahme. Viele Patienten weinen in der Psychotherapie, oft auch schon in der ersten Sitzung. Wahrscheinlich hat dieser Patient wie die meisten Menschen lange gewartet, bis er den Schritt gewagt hat, sich Hilfe zu suchen, und steht deshalb entsprechend unter Druck. Viele Patienten weinen, weil sie erleichtert sind, sich endlich nicht mehr ständig zusammenreißen zu müssen. Wenn man eine Last lange genug getragen hat, ist man froh, wenn man endlich am Ziel ist und sie abwerfen kann. Und dann sitzt einem auch noch jemand gegenüber, der sich tatsächlich für das interessiert, was man erzählt. Kein Wunder, dass einem da die Tränen kommen. Und ja, auch Männer weinen in der Therapie. Nicht einmal so sehr viel seltener als Frauen.
Auf der anderen Seite ist es aber auch in Ordnung, nicht zu weinen. Manche Patienten sind enttäuscht, wenn ihre Therapie unspektakulär und ohne große Gefühlsausbrüche verläuft. Sie fürchten, es fehle vielleicht noch etwas, um eine anhaltende Besserung zu erzielen. Warum daran auch Alfred Hitchcock schuld ist, werden Sie später noch erfahren.
Hatte ich eigentlich erwähnt, dass Therapeuten nichts dagegen haben, dass ihre Patienten Individuen sind? Sie dürfen weinen. Sie müssen aber nicht.
Unsere erste Sitzung neigt sich bereits dem Ende zu. Der Patient hat erzählt, was ihn bedrückt, und der Therapeut hat ihn je nach persönlicher Art und therapeutischer Ausrichtung mehr oder weniger häufig unterbrochen.
Nun sagt der Therapeut ihm, ob er ihm ein therapeutisches Angebot machen kann.
Vielleicht wird er der Meinung sein, eine Psychotherapie sei bei diesem Patienten gar nicht angebracht. Oder er wird ihm empfehlen, lieber zu einem Kollegen zu gehen, der eine andere Therapieform anbietet.
Nun wird es noch einmal kompliziert. Sie wissen inzwischen, dass, wer Psychotherapeut werden will, nach dem Psychologie- oder Medizinstudium eine psychotherapeutische Zusatzausbildung macht. Insgesamt gibt es unzählige Psychotherapieformen. In Deutschland sind drei davon von den Krankenkassen zugelassen, obwohl dies auch für einige weitere Psychotherapieformen wünschenswert wäre.
Jeder kassenzugelassene Psychotherapeut hat eine Ausbildung in einer dieser drei Therapieformen: Er ist entweder Psychoanalytiker oder Tiefenpsychologe oder Verhaltenstherapeut.
Den meisten Patienten ist das nicht bekannt, das heißt, sie kommen »unvorsortiert« in unsere Praxen. Bevor der Psychotherapeut im Erstgespräch herausfindet, welche dieser drei Formen für den Patienten am geeignetsten ist, muss er zunächst feststellen, ob überhaupt eine Psychotherapie angesagt ist.
Vielleicht geht es dem Patienten akut so schlecht, dass er eine stationäre Therapie braucht. Möglicherweise ist er damit überfordert, sich mit sich selbst in konstruktiver Weise zu beschäftigen, und muss zunächst einmal medikamentös behandelt und daran gehindert werden, sich selbst zu gefährden. Mitunter kommen diese Patienten im Anschluss an einen Aufenthalt in der Klinik, wenn sie ausreichend
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