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Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin

Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin

Titel: Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Bei vielen Patienten waren die Rollen sogar vertauscht, wie bei dem Elfjährigen im Zug. Sie mussten sich eher um die Eltern sorgen, als dass diese sich um ihre Kinder gekümmert hätten.
    Solche Patienten erkenne ich daran, dass sie sich häufig nach meinem Befinden erkundigen und danach, ob mein Beruf nicht sehr anstrengend sei. Das heißt, sie tasten sich erst langsam vor, prüfen, ob ich tatsächlich ein offenes Ohr für sie habe oder ob ich nicht auch wieder jemand bin, der vor lauter Überforderung nicht wirklich für sie da sein kann. Dass jemand sich ernsthaft für ihr Gefühlsleben interessiert, ist für viele Patienten eine völlig neue Erfahrung.
    Zu Beginn einer Sitzung sagen Patienten oft, es gebe nichts Neues. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass sie mit ihrer Aufmerksamkeit noch mehr beim Therapeuten als bei sich selbst sind. Denn natürlich gibt es immer etwas Neues. Eine ganze Woche lang sind diesem Menschen hunderttausend Dinge durch den Kopf gegangen. Er geht allerdings davon aus, dass die für den Therapeuten uninteressant sind und dass man dem mit solchen Nichtigkeiten nicht zu kommen braucht. Wenn sich die Mama früher allenfalls dafür interessiert hat, wenn man sich einen Arm gebrochen hatte, kann man sich nicht vorstellen, dass etwas unterhalb solch dramatischer Vorfälle für den Therapeuten interessant sein kann. Wobei ich auch schon von Patientenmüttern gehört habe, die selbst auf einen Armbruch ihres Kindes kaum reagiert haben.
    Wenn Patienten sagen, sie wüssten nichts zu erzählen, frage ich sie einfach, wie es ihnen geht. Das macht es ihnen leichter, mit der Aufmerksamkeit bei sich selbst zu bleiben, anstatt sich zu überlegen, was für mich wichtig sein könnte. Der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit muss also vom Therapeuten auf den Patienten verlagert werden. Dazu muss der Patient sich sicher fühlen können, dass mit dem, was er auf den Tisch legt, respektvoll umgegangen wird, wie groß, wie klein, wie beängstigend oder peinlich auch immer es sein mag.
    Der Therapeut muss sich das Vertrauen des Patienten erarbeiten. Es ist völlig in Ordnung, wenn Sie in der Psychotherapie nicht gleich alles auspacken. Das ist ein gesunder Schutzmechanismus. Schließlich müssen Sie zunächst einmal sehen, wen Sie vor sich haben und ob er Ihr Vertrauen verdient. Nur weil über einem Laden »Bäckerei« steht, gehen Sie noch lange nicht davon aus, dass dort unvergleichliche Geschmackserlebnisse auf sie warten. Erst, wenn Sie festgestellt haben, dass die Brezeln in den dünnen Teilen knusprig und am dicken Ende weich sind, werden Sie beginnen, dem Bäcker zu vertrauen.
    Ist dieses Grundvertrauen erst einmal vorhanden, ist es aber auch wichtig, mutig zu sein. Wenn Patienten sagen: »Eigentlich wollte ich Ihnen das nicht erzählen, das ist mir zu peinlich«, ist gerade das oft der Beginn einer Stunde, die ihn ein großes Stück weiterbringt.
    Außerdem hat der Therapeut es in diesem Punkt auch nicht leichter. Auch er muss immer mal wieder seinen ganzen Mut zusammennehmen, wenn es darum geht, etwas anzusprechen, das erst ganz vage spürbar ist, oder das er gar nur mit seinem Instinkt, noch nicht mit dem Verstand wahrgenommen hat.
    Mit manchen Patienten kann man gleich richtig loslegen, bei anderen muss erst einmal viel beiseite geräumt werden. Das Thema Normalität hatten wir ja schon. Es ist immer wieder erstaunlich, was Menschen an sich alles »nicht normal« finden. Oft sind es gerade die Dinge, die ihnen helfen, gesund zu bleiben. Viele Patienten kommen mir zu Beginn der Psychotherapie vor wie eine strenge, verständnislose Mutter, die ihr Kind in die Erziehungsberatung schleppt. Sie beschreiben sich als faul, schwach, zu anklammernd und was dergleichen Selbstbeschimpfungen mehr sind.
    Man merkt schnell: Da sitzt jemand, der mit den Augen des brutalstmöglichen Kritikers auf sich blickt. Das personifizierte Über-Ich. Auf Nachfrage gibt der Patient zu, dass er die gleichen Verhaltensweisen, die er bei sich geißelt, bei seinen Mitmenschen akzeptabel fände, dass sie ihm vielleicht nicht einmal auffallen würden. Nur sich selbst gegenüber ist er so streng. Ausgerechnet der Person gegenüber, mit der er bis zu seinem Ableben vierundzwanzig Stunden am Tag verbringen wird.
    Die Aufgabe des Psychotherapeuten besteht in den meisten Fällen darin, dieses Zusammenleben des Patienten mit sich selbst erträglicher zu gestalten und dafür zu sorgen, dass er sich nicht pausenlos die Hölle heißmacht. Dazu

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