Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin
die Patientin nicht etwa darunter leidet, dass sie sich nicht durchsetzen kann, sondern dass sie dies vielmehr in so extremem Maße tut, dass ihre Mitmenschen darauf mit Gegenwehr reagieren. Dass sie selbst die Ursache dessen ist, nimmt sie nicht wahr, sie spürt nur, dass sie in vielen Beziehungen auf Granit beißt. Da sie den Grund zu kennen glaubt, kontert sie, indem sie aufs Gas tritt, statt einen Gang zurückzuschalten. Dass genau das ihr Problem ist, kann sie nicht sehen.
Dann müsste der Therapeut ihr dabei helfen, sich von der Vorstellung zu verabschieden, sie sei klein und schwach und könne sich gegen die anderen Erdenbewohner nicht durchsetzen, weil die größer und stärker sind. Dabei liegt der Gewinn für die Patientin unmittelbar auf der Hand: Das, von dem sie dachte, sie müsse es erst mühsam erwerben, steht ihr schon längst zur Verfügung. Sie bringt sich lediglich dadurch in Schwierigkeiten, dass sie meint, sie müsse immer noch mehr davon erwerben. Die therapeutische Arbeit besteht darin, herauszufinden, wie es passieren konnte, dass die innere Uhr der Patientin so grauenvoll nachgeht und dass das Bild, das sie von sich selbst hat, hoffnungslos veraltet ist. Falls es überhaupt jemals gestimmt hat.
Patienten haben oft die Fantasie, der Therapeut würde sich eine Menge Gedanken über sie machen, die er allerdings für sich behält. Und natürlich seien das ganz strenge, kritische Gedanken.
Es trifft zu, dass der Therapeut den Patienten sachlich betrachtet. Wenn er nur sagen würde: »Sie sind genau richtig, wie Sie sind, machen Sie weiter so«, hätte der sich den Weg sparen können. Er denkt sich tatsächlich eine Menge über ihn, aber er wird das Ergebnis seiner Überlegungen nicht für sich behalten. Warum auch? Die Gedanken, die ihm kommen, wenn er seinem Patienten aufmerksam zuhört, haben mit dessen Problemen zu tun, und es ist seine Aufgabe, sie so zur Verfügung zu stellen, dass sie ihm auch weiterhelfen.
Wenn der Patient allerdings erwartet, dass er sie ihm um die Ohren haut, wird er enttäuscht werden. Psychotherapeuten müssen den Balanceakt beherrschen, jemandem glasklar die Wahrheit zu sagen und dies dennoch so zu tun, dass der Patient etwas damit anfangen kann, anstatt sofort die Schotten dicht zu machen, weil er sich angegriffen fühlt.
Auf einen Angriff mit Schutzmaßnahmen zu reagieren ist ein gesunder Reflex. Wenn ein Insekt auf uns zugeflogen kommt, schließen wir die Augen, um sie zu schützen. Vernünftige Sache. Wenn Kritik auf uns zugeflogen kommt, verbarrikadieren wir in der Regel die Psyche. Allenfalls schauen wir durch eine kleine Schießscharte nach draußen und beäugen argwöhnisch die Kritik, die der andere wie stinkenden Unrat vor unserer Tür abgeladen hat. Möglicherweise stellen wir fest, dass wir ein wenig von dem Unrat an unseren Schuhen mit hereingebracht haben, was nicht sehr angenehm ist. Vielleicht sagen wir uns in den nächsten Tagen häufiger, dass der andere einfach blöd ist, und finden tausend Gründe, warum er unrecht hat. Das heißt, wir putzen eine Zeit lang unser Seelenhäuschen etwas gründlicher, um die letzten Spuren des Unrats zu beseitigen. Möglicherweise stellen wir aber auch fest, dass ein Mensch, den wir sonst eigentlich als wohlwollend kennengelernt haben, die unangenehme Hinterlassenschaft deponiert hat, und wir machen uns seufzend daran herauszufinden, ob unter all dem Müll vielleicht doch etwas verborgen ist, das uns nützlich sein könnte.
Auf diese Verteidigungsmaßnahmen der Psyche, die der Psychoanalytiker Widerstand nennt, stößt der Therapeut häufig. Da sie, wie gesagt, grundsätzlich ein gesunder Mechanismus sind (der bei manchen psychischen Erkrankungen mehr oder weniger außer Kraft gesetzt ist), wird der Therapeut sie respektieren. Da es andererseits aber auch darum geht, dass der Patient in einer von vornherein begrenzten Zeit etwas mehr versteht, ist es gleichzeitig seine Aufgabe, ihm nahezubringen, was er anders sieht als der Patient. Und das möglichst auf eine Art zu tun, dass er selbst vom heruntersausenden Fallgitter nicht verletzt wird. Dass das nicht immer gelingt, gehört zum Berufsrisiko des Therapeuten und hängt – Sie ahnen es schon – wieder einmal mit dem Unbewussten zusammen. Das verängstigte kleine Kerlchen, das da unten im Keller sitzt, kriegt manchmal nicht allzu viel mit von dem, was draußen vor sich geht. Durch die dicken Mauern verzerrt sich vielleicht die an sich wohlwollende Stimme des
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