Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin
einmal Aktuelles und Lebensgeschichtliches. Die Eltern des Patienten hatten selten Zeit für ihn, vielmehr war er oft allein gelassen worden. Er hatte sehr früh gelernt, nicht zu nerven. Wo ein Kollege mit aufmerksameren Eltern zum Chef gegangen wäre und ihn damit konfrontiert hätte, dass er doch schließlich selbst angeboten habe, ihn in die neue Materie einzuarbeiten, war dieser Patient der festen Überzeugung, alles sei seine Schuld.
Kinder neigen dazu, sich für alles Schlimme, das ihnen widerfährt, die Schuld zu geben. Sie fühlen sich nicht nur schuldig, wenn sie bestraft worden sind, selbst wenn diese Strafe mehr einer Laune der Eltern als einem Fehlverhalten des Kindes entspringt. Sondern auch, wenn sich die Eltern trennen, wenn ein Familienangehöriger krank wird oder stirbt. Der Grund hierfür ist nicht ganz einfach zu verstehen. Selbst für einen Erwachsenen ist es schwer, manchmal sogar beinahe nicht auszuhalten, wenn jemand stirbt, den er liebt, oder wenn er verlassen wird. Für ein Kind ist das noch ungleich schwerer. Da greifen dann Schutzmechanismen, die – oft auf nahezu rührende Weise – versuchen, das psychische Gleichgewicht zu bewahren.
Für Kinder ist die Welt sehr unberechenbar, und sie fühlen sich oft machtlos. Für sie ist es unerträglich, zu erleben, dass schreckliche Dinge geschehen können und dass sie absolut nichts dagegen tun können. Da ist es, so seltsam es klingt, noch leichter zu ertragen, wenn sie sich sagen: Ich bin schuld, dass die Eltern sich getrennt haben, weil ich so ein böses Kind bin. Das haben sie mir ja auch manchmal gesagt. Wenn ich mir jetzt Mühe gebe, kommt alles wieder in Ordnung.
Auch für Kinder in sehr ungedeihlichen Familien funktioniert das. Ihnen helfen Gedanken wie: Ich werde oft geschlagen und schlecht behandelt, ich muss mich nur anstrengen, den Eltern keinen Anlass mehr zu bieten, dann werden wir eine ganz normale Familie sein.
Dieses Konzept bietet zumindest die Hoffnung auf einen Ausweg aus der Misere. Man kann damit leichter leben als mit der Wahrheit: Ich habe das Pech, in einem Irrenhaus zu leben, und ich bin hier gefangen, bis ich achtzehn bin.
Ganz zu schweigen davon, dass es bedeuten würde, zu erkennen, dass man Eltern hat, die nicht imstande sind, ihr Kind zu schützen. Sondern dass man sich in der Gewalt von Menschen befindet, die inkompetent und schlimmstenfalls sogar unberechenbar sind.
Wie kann Ihnen dieses Wissen dabei helfen, kleinere depressive Fleckchen zu bekämpfen, die noch nicht unbedingt der Behandlung bedürfen?
Versuchen Sie, wenn Sie sich abends ausgesprochen mies fühlen, wenn Sie fest davon überzeugt sind, Sie seien absolut unfähig, dies als ein Zeichen zu nehmen. Nicht dafür, dass Sie nichts taugen, sondern dafür, dass in einem Kontakt etwas schiefgelaufen ist. Und zwar zu Ihren Ungunsten.
Wie alles bedarf auch das der Übung und ist nicht von heute auf morgen gelernt.
Überlegen Sie einmal nicht: Was habe ich wieder verkehrt gemacht? Sondern: Wer hat mich heute verletzt?
Wenn Sie sich nach einem Kontakt, mit wem auch immer, mies, hässlich, unfähig oder was auch immer finden, dann liegt das nicht daran, dass Sie mies, hässlich oder unfähig sind. Sondern daran, dass mit dem Kontakt etwas nicht in Ordnung ist. Es ist etwas geschehen, das alte Wunden aufgerissen hat. Und Sie haben versucht, die Wunden auf die Weise zu versorgen, die früher funktioniert hat. Mit der Methode: Ich bin schuld.
Für ein Kind funktioniert sie – zumindest besser, als sich völlig allein und ausgeliefert zu fühlen. Für einen Erwachsenen funktioniert sie nicht. Sie führt im Gegenteil schlimmstenfalls mitten in eine Depression.
Wenn Sie also wissen, dass Sie dazu neigen, sich für alles selbst die Schuld zu geben, lernen Sie, genauer hinzuschauen, was geschehen ist. Und wahrscheinlich werden Sie unter dem Haufen mieser Gefühle einen dicken Klumpen Wut entdecken. Ihn auf seine Umwelt zu richten, macht auch nicht glücklich und bringt einen schlimmstenfalls ins Gefängnis. Aber hören Sie auf, die Wut gegen sich selbst zu richten.
Nach der Abteilung »Vorsorge und kleinere Reparaturen« kommen wir jetzt wieder zu Beschwerden, die sich nicht so einfach mit Sport, Spiel und Schlaf vertreiben lassen. Im nächsten Kapitel werde ich Ihnen erklären, was Sie tun müssen, wenn es bei Ihnen einmal brennt und Sie überlegen, ob vielleicht eine Psychotherapie ansteht.
Kapitel 5
Wenn ' s brennt
Wann ist es bei mir so weit?
Haben
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