Da gewöhnze dich dran
von der Brücke tropft Kondenswasser, am Straßenrand liegt Müll. Ich gehe über Kopfsteinpflaster zur Bahnhofskneipe.
Als wir uns gegenüberstehen, stellt sich mir bochum 81 als Martin vor. Er ist dünn wie ein Blatt Papier, Mitte 30 , seine Jeans schlackert ihm um die Beine. Er sei nicht wirklich ein Forscher, sagt er und knibbelt sich dabei die Nagelhaut von den Fingernägeln, eigentlich habe er Ingenieurwissenschaften studiert, habe sich aber «irgendwie verfranzt» und möchte nun lieber etwas «mit seinen Händen tun, etwas Sinnvolles, zum Beispiel Arachnologie». Während er an einem Pfefferminztee nippt, erzählt er: «Wenn du durch Höhlen kriechst, ist das total faszinierend. Da sind überall Spinnen, richtig große. Die haben noch nie einen Menschen gesehen, und wenn du dich durch die Gänge zwängst, lassen sie sich trotzdem einfach auf dich fallen. Die haben keine Angst, obwohl sie dich gar nicht kennen. Das ist der Hammer, das muss man einfach mal erlebt haben.» Er zuckt mit dem Kopf, als müsse er sich eine Haartolle aus der Stirn werfen.
Ich trinke einen großen Schluck von meinem Radler und sage: «Verlockend.»
«Du kommst aus dem Sauerland, oder? Ich war schon in der Attahöhle und in der Dechenhöhle. Ich könnte dich mal dorthin mitnehmen.»
Bis auf die Tatsache, dass er mindestens 25 Kilo weniger wiegt als ich, sieht er nicht übel aus. Er hat dichtes braunes Haar, dunkle Augen und Wimpern wie aufgeklebt: lang und geschwungen. Doch von der Lockerheit aus dem Chat ist nichts mehr da. Ich sage: «Das mit den Spinnen finde ich ein bisschen abschreckend.»
«Aber du hast doch grad gesagt, das sei verlockend.»
«Das war ironisch.»
«Spinnen sind total faszinierend, echt. Die große Winkelspinne zum Beispiel, die hast du bestimmt schon mal gesehen. Am Hinterleib hat sie einen schmalen Streifen. Stell dir vor! Die ist so schnell, die kann bis zu 50 Zentimeter in der Sekunde zurücklegen. In der Sekunde! Das muss man sich mal überlegen. Mit nur 20 Millimetern Größe! Mit den Borsten, die sie an den Beinen hat, kann sie sogar Schall wahrnehmen. Du kannst also sicher sein: Wenn du durch die Höhle kommst und du sie noch nicht sehen kannst, hat sie dich schon wahrgenommen. Beeindruckend, oder?»
«Geht so.»
«Sie war mal Spinne des Jahres.» Wieder das Haartollenzucken.
«Wahnsinn.»
«Vorher war das die Riesenwolfspinne.» Er macht mit beiden Händen einen Kreis, der so groß ist wie eine kleine Pizza. «Aber die lebt nur an Gewässern, wenn überhaupt. Dadurch, dass hier so viele Flüsse begradigt wurden und es kaum noch Kies- oder Schotterbänke gibt, ist sie fast ausgestorben. Wenn man mal eine sieht, ist das also ein echter Kracher. Die Riesenwolfspinne baut nämlich so Wohnröhren. Die gräbt sie richtig in den Untergrund. Dort sitzt sie dann und wartet auf Fliegenlarven oder Laufkäfer. Du siehst sie aber kaum, denn durch ihre Farbe und ihr Muster ist sie so gut getarnt – du könntest neben ihr liegen und würdest sie nicht bemerken. Ist mir zum Beispiel mal an der Ruhr passiert, als ich dort schwimmen war.» Er nippt an seinem Pfefferminztee. «Mann, ist der heiß. Der wird aber auch gar nicht kälter.»
«Das Bier kann man gut trinken», sage ich und nehme einen Schluck aus meinem Glas.
«Du interessierst dich nicht so für Spinnen, oder?», fragt Martin.
«Eher nicht.»
«Habe ich erst auch nicht getan. Aber wenn man sich mal näher mit diesen Tieren beschäftigt, merkt man sofort, was für tolle Wesen das sind. Wie gesagt, ich nehme dich gerne mal mit in eine Höhle. Dort triffst du Hunderte von denen. Danach bist auch du fasziniert.»
«Glaube ich nicht.»
«Und was hast du so für Hobbys?» Er zieht einen langen Fetzen Haut von seinem rechten Zeigefinger. Die Wunde beginnt zu bluten. Er leckt sie ab.
«Ich spiele Handball.»
«Sport? Das ist ja nicht so meins. Das Klettern durch die Höhlen, das ist mir Sport genug. Wenn du dich durch einen Gang durchquetschst, der kaum breiter ist als du selbst, auch noch mit der ganzen Ausrüstung, dann bist du abends echt geschlaucht.» Er hält inne und beugt sich an der Kante des Tischs entlang nach unten, als suche er etwas. «Bei dir könnte das ein bisschen knapp werden. Nicht, dass du zu dick bist oder so, das will ich nicht sagen. Aber wir müssten halt vorher schon genau ausmessen, nicht, dass du stecken bleibst. Das hatte ich nämlich einmal. Da habe ich auch eine Frau mitgenommen, die hatte einfach ein bisschen zu viel
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