Da gewöhnze dich dran
Björn. Rückblickend ist mein erster Herbst im Ruhrgebiet eine Zeit aus Karamell und Zuckerwatte – mit Schäfchenwolken und Spätsommersonne, wie ein einziger Tag aus Laubhaufenhüpfen und Pfützenspringen, übermütig und schwerelos. Wenn ich doch einmal innehalte, dann bei Waffelherzen und heißer Schokolade. Es sind Wochen wie ein fortwährendes Bällebad, überschwänglich, quietschbunt und phantastisch.
Ich treffe Björn in Parks und Wäldern. Wir gehen oft gemeinsam joggen, laufen durch Wiesen und über Spazierwege, in Dortmund und Essen – und um den Kemnader See. Er trainiert für einen Marathon, Mitte Oktober soll er stattfinden, Björn hat spät mit der Vorbereitung begonnen, ist eigentlich nicht fit, aber er hat es sich in den Kopf gesetzt, und so laufen wir viel, an jedem Wochenende, er voran, ich hinterher, er zwei Runden, ich eine. Zu Beginn jeder Einheit läuft er mir davon, stürmt in schweren, aber weiten Schritten los, am Ende warte ich auf ihn, sitze auf einem Stein und gucke, wie er mir entgegenschnauft – abgekämpft, aber seinem Ziel wieder 20 Kilometer näher.
Wir treffen uns auch zum Spazierengehen, zum Erkunden, für Ausflüge. Wir besteigen Hochöfen, folgen Bahntrassen und Kanälen, meine Hand hält seine, während die Luft kälter wird und allmählich unsere Wangen rötet. Nach unseren Ausflügen, nach den Läufen und der Anstrengung liegen wir auf dem Sofa oder im Bett, bei mir oder bei ihm. Er sagt mir oft, dass er mich lieb habe, dass er mich vermisse, dass es nichts gebe, was er nicht schon jetzt mit mir plane – und knufft mich, ernst und scherzhaft zugleich. Wenn ich nicht bei ihm liege, mit ihm durch die Städte und Felder streife, schreibt er im Stundenrhythmus, mailt, simst und ruft an, dreimal, viermal am Tag, oft nur wenige Worte, wir necken und stupsen uns, sind an der Seite des anderen, auch wenn wir uns nur am Wochenende sehen – an den Wochenenden, die er nicht mit seiner Tochter verbringt.
Mitte Oktober dann findet der Marathon am Baldeneysee statt: zweimal drum herum, in der ersten Runde eine zusätzliche Schleife, 42 Kilometer. Es gibt keine Walker, keine Halbstrecke, es ist ein reiner Marathon, etwas für Puristen. Es ist der 10 . 10 . 2010 , um 10 . 10 Uhr soll es losgehen, um 9 Uhr sind wir an der Strecke. In einer Turnhalle holt Björn sich seine Startnummer und einen Beutel mit Unterlagen und allerlei Krimskrams ab: Traubenzucker, Gummibärchen, Salben für wunde Füße. Dann geht es nur noch darum, die Zeit bis zum Start herumzubringen. Er ist nervös, läuft auf und ab.
«Feuerst du mich an?», fragt er hüpfend.
«Na klar.»
«Ich fühle mich gut.»
«Vergiss nicht, deine Brustwarzen abzukleben.»
«Du Scheiße. Da sagst du was.»
Er überklebt seine Brustwarzen mit einem Stück Tape, damit sie sich während der vier Stunden auf der Strecke nicht am T-Shirt wundscheuern. Er stemmt seinen Fuß nach hinten, dehnt seine Wade, wippt auf und ab.
«Unter vier», sagt er, bevor er zum Start geht.
«Ankommen allein reicht», sage ich.
«Nee. Wenn schon, denn schon.»
Die Idee ist irrsinnig: vier Stunden laufen, am besten sogar unter vier Stunden. Nur einmal hat er 30 Kilometer trainiert – und war danach völlig am Ende. Aber er will es unbedingt, will sich beweisen. Schon seit mehreren Jahren, sagt er mir, habe er vor, den Baldeney-Marathon mitzulaufen, aber immer sei etwas dazwischengekommen: eine Erkältung, eine Verletzung, die Geburt seiner Tochter. Dies sei der erste Anlauf nach der Trennung von seiner Frau. Diesmal gilt es. Jetzt erst recht.
Unter dem Blätterdach, das Wege und Pfade beschattet, ist es kühl. Aber die Oktobersonne kommt, es soll ein schöner Tag werden heute, ideal für Läufer – und ideal für all diejenigen, die zusehen, die am Rand stehen, auf den See blicken und warten. Rund um den See gibt es Ausflugslokale, eine Minigolfanlage und eine Regattabahn mit Tribünen. Am Ufer liegt auch ein Freibad, oder nein, kein Freibad, es nennt sich Licht- und Luftbad – es ist ein Freibad, in dem man nicht baden darf. Denn der Baldeneysee ist kein Badesee, so ist das hier im Ruhrgebiet, man darf hier nirgendwo baden – zumindest nicht in Seen, es scheint in dieser Hinsicht eine Gesetzmäßigkeit zu geben. Im Licht- und Luftbad liegt man deshalb auf der Wiese, blickt aufs Wasser und träumt vom Schwimmen.
Ich überlege, ob ich mich in einen der Liegestühle setzen und aufs Wasser schauen soll, auf dem Relikte der Kulturhauptstadt
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