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Da gewöhnze dich dran

Da gewöhnze dich dran

Titel: Da gewöhnze dich dran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Giese
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sage ich.
    Am Zieleinlauf drängeln sich die Menschen, stehen auf einer Tribüne und hinter Flatterbändern. Die ersten Männer sind seit vierzig Minuten im Ziel, auch die ersten Frauen sind schon da. Die Zuschauer klatschen, feuern die Ankommenden an, die noch erstaunlich fit aussehen und erstaunlich schnell laufen, schneller als ich auf fünf Kilometern – und das nach einer Strecke, die achtmal so lang ist.
    Es geht ein leichter Wind. Cheerleader mit wehenden Puscheln stehen an der Strecke, doch keiner der Läufer hat Augen für die kurzen Röcke, alle wollen nur durch das Tor aus Traversen, das das Ende ihrer Qualen markiert. Ein Moderator sagt die Namen der Ankommenden durch.
    «Und du?», frage ich Iosif. «Was vermisst du am meisten?»
    «Ach», sagt er. «Nichts, was man kaufen kann. Weißt du, es gibt hier viel Herz im Ruhrgebiet, aber in Kasachstan, da ist noch mehr Freundschaft. Kann man fast nicht glauben, oder? Aber doch, ja. Du bist dort mehr miteinander, es gibt mehr Leidenschaft, selbst wenn du dich streitest, dann streitest du dich mit großem Herz, dann prügelst du dich, Mann gegen Mann, und danach umarmst du dich. Als wir in unsere erste Wohnung zogen, damals, in Bochum, haben wir alle Nachbarn eingeladen, haben mit ihnen gefeiert. Meine Frau hat Pelmeni gekocht, die Männer haben Schnaps getrunken, wir haben getanzt. Es war eine gute Feier. Aber drei Wochen später haben sich Leute beschwert, beim Vermieter. Haben gesagt, dass es zu laut ist in unserer Wohnung, dass die Kinder zu viel springen, dass sie das Treppenhaus schmutzig machen. Dabei haben wir so gut zusammen gefeiert, wir waren Freunde. In Kasachstan haben wir so was nie erlebt.»
    Er beugt sich vor. In fünfzig Metern Entfernung kommt ein Pulk Läuferinnen. Doch Iosif schüttelt den Kopf. Karolina ist nicht dabei.
    «Hast du jemals den Wunsch gehabt, wieder zurückzukehren?», frage ich.
    «Möchtest du denn zurück?», entgegnet Iosif.
    Ich schüttele den Kopf. «Nein, bis jetzt nicht. Aber ich wohne ja noch nicht lange hier.»
    «Weißt du, Nessy, meine Heimat …», er überlegt kurz. «Mit meiner Heimat ist es wie mit einer verloschenen Liebe. Mein Leben dort ist vorbei. Alles, was ich vermisse, ist Vergangenheit. Almaty hat sich verändert. Die Leute haben sich verändert. Ich habe mich verändert.»
    Er beklatscht die Läuferinnen, die nun ins Ziel kommen. Ich stimme mit ein. Seit dem Start sind nun fast dreieinviertel Stunden vergangen.
    «Weißt du, was komisch ist? Darüber habe ich heute Morgen noch nachgedacht. Komisch ist, dass ich «Frei» heiße. Iosif Frei. Und meine Frau auch. Swetlana Frei. Aber wir waren nie frei. Wir dachten, wenn wir nach Deutschland kommen, sind wir frei. In Kasachstan waren wir angesehene Leute. Meine Frau war Lehrerin. Dann kamen wir nach Deutschland, und seitdem muss sie putzen. Ich mache hier Hausmeister. Dabei bin ich Ingenieur. Wir sind nicht frei.»
    Er macht eine Pause. Dann sagt er: «Ja, so ist es. Heimat ist wie eine Liebe. Eine große Liebe. Du hast sie immer in dir, auch wenn sie vorbei ist. Da kommt sie!»
    Er deutet auf ein Mädchen, das aufs Ziel zuläuft: klein, drahtig, die Hacken an den Hintern werfend. Sie spurtet fast, ihr Pferdeschwanz wippt von links nach rechts.
    «Karolina!», ruft Iosif und winkt. «Karolinka, maja Dotsch!»
    Sie schaut kurz zu ihm hin, lächelt und rennt weiter. Bei 3 : 39 : 19 kommt sie ins Ziel.
    «Großartig!», ruft Iosif.
    Von weitem sehen wir, wie ein Helfer Karolina eine Decke um die Schultern legt. Sie stützt sich auf ihren Oberschenkeln ab, schwankt, der Helfer schiebt sich vorsichtig zur Seite. Von hinten kommen bereits die Nächsten.
    «Nessy, mach’s gut», sagt Iosif und hält grüßend seinen Kaffeebecher in die Höhe. «Ich muss zu meiner Tochter. Wir sehen uns morgen.» Er verschwindet in der Menge und taucht kurze Zeit später neben Karolina wieder auf, umarmt sie und führt sie zur Seite, rubbelt ihre Schultern, lacht, knufft sie.
    Die Läufer, die nun eintrudeln, werden mit jeder Viertelstunde, die vergeht, langsamer, sehen abgekämpfter aus. Es gibt Schlussspurts, es kommen Männer, die nur noch gehen können, Frauen, die auf den letzten Metern stolpern, und dort hinten läuft auch das Huhn, wie hat es das nur so schnell geschafft? Es ist jetzt kurz nach zwei, die Sonne steht hoch am Himmel. Die Leute um mich herum klatschen, der Rhythmus von Trommlern gibt den Takt vor. Ich beklatsche die Einlaufenden, egal ob schnell oder langsam,

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