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Da gewöhnze dich dran

Da gewöhnze dich dran

Titel: Da gewöhnze dich dran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Giese
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strauchelnd oder rennend, unglaublich, wie viele Leute einen Marathon schaffen. Björn ist allerdings nirgendwo zu sehen. Dabei müsste er bald kommen, der Vier-Stunden-Zugläufer hat seinen Luftballon schon vor einigen Minuten durchs Ziel getragen, doch von Björn keine Spur.
    Es dauert noch eine weitere Stunde, bis er eintrudelt, gehend, schlurfend, dann wieder kurz laufend, nur fünf Meter, dann wieder gehend. Mit hängendem Kopf und schlenkernden Armen rettet er sich ins Ziel: 5 Stunden, 5 Minuten, 31 Sekunden.
    «Du hast es geschafft!», rufe ich, als ich zu ihm renne.
    Er geht weiter, geht von der Menge weg, mit mir und dem Zieleinlauf in seinem Rücken.
    «Hey», sage ich, laufe an seine Seite und lege den Arm um seine Taille. «Glückwunsch! Ich bin stolz auf dich.»
    «Scheiße war’s», sagt er nur.
    «Du bist einen Marathon gelaufen! Das ist super!»
    «Lass mich.» Er windet seine Hüfte aus meinem Arm heraus, geht einen Schritt nach links, von mir weg. Er sieht mich nicht an.
    «Ist ja schon gut», sage ich und bleibe mit herabhängenden Armen stehen.
    Er geht weiter, vorbei an Dixie-Toiletten, an anderen Läufern, lachenden, sich auf die Schultern klopfenden Grüppchen, an Menschen, die eine Rose in der Hand halten, die aus Bechern trinken, an Paaren, die sich küssen, die sich drücken und herzen.
    Ich renne zu ihm, sage: «Ich warte an der S-Bahn auf dich.»
    «Brauchst nicht auf mich zu warten.»
    «Boah, Björn!» Ich werde sauer. «Es ist nicht so gelaufen, wie du dir das vorgestellt hast. Schon klar. Aber so ist es jetzt halt. Das Ding ist vorbei, du bist im Ziel.»
    Mit einem Ruck bleibt er stehen, dreht sich zu mir um. «Es war mein Traum!», sagt er laut, seine Arme hängen herab, seine Schultern hat er hochgezogen. «Mein verdammter Traum! Und wahrscheinlich meine einzige Chance!»
    «Ja und?!», schreie ich zurück. «Du hast es doch geschafft!»
    «Aber wie! Auf allen vieren! Auf den letzten zehn Kilometern hatte ich nur noch Krämpfe.»
    «Das soll wohl vorkommen bei einem Marathon.»
    «Du musst es ja wissen», sagt er süffisant.
    Er dreht sich wieder herum, geht ein Stück. Dann sagt er, sich kurz zu mir umblickend: «Fahr bitte nach Hause. Ich möchte jetzt niemanden sehen.»
    «Aber anfeuern durfte ich dich, oder was?»
    Er bleibt erneut stehen, stemmt die Hände in die Hüften. «Das war mein Ding hier. Meins. Du wolltest mitkommen. Ich habe dich nicht gezwungen.»
    «Gut», sage ich und zucke mit den Schultern. Ich bin den Tränen nahe. Immer, wenn ich wütend werde, muss ich heulen. Und weil ich heulen muss, werde ich noch wütender. «Dann gehe ich halt.» Ich ziehe die Nase hoch.
    «Und putz dir die Nase.»
    Mit ausladendem Schritt und vorgeschobenem Unterkiefer stapfe ich zur S-Bahn.

    Bald wird der See vor meiner Haustür, die Copa Cabana, zu Wasser gelassen: Ein Zufluss wird geöffnet, und Millionen Liter beginnen, in das Loch zu sprudeln, das einst ein Stahlwerk war. Ein Fest wird veranstaltet. Björn und ich starren auf die Brachfläche, er hält mich im Arm, hinter uns Würstchenbuden, weiße Zelte und die Musik einer eingekauften amerikanischen Sängerin. Das Wetter ist mäßig, es windet und ist garstig kalt, doch ich bin beschwingt, denn das hier fühlt sich an wie mein See, gemeinsam sind wir hergezogen, gemeinsam wollen wir hier groß werden.
    Björn hat mich zwei Tage nach dem Marathon um Entschuldigung gebeten, er war zerknirscht, hat gesagt, er sei nicht ganz bei Sinnen gewesen, die Enttäuschung sei so groß gewesen, er hätte keinen klaren Gedanken fassen können. Ich nehme die Entschuldigung an. Trotzdem ist etwas in mir zurückgeblieben, eine Verletzung, eine neue Wachsamkeit – und auch er hält Abstand, unsere Gespräche verlieren an Innigkeit, seine Zärtlichkeit weicht Mechanik.
    Er kommt mit zu meinen Handballspielen, setzt sich mit den Jungs auf die Tribüne, klopft Sprüche mit Bunke, Mörtel, Peppi und Kaleu, pfeift den Schiedsrichter aus und trägt mir die Sporttasche nach Hause. Doch mit seinen Gedanken ist er oft woanders, er schaut verstohlen auf die Uhr, wenn wir auf dem Sofa oder im Bett liegen. Diese Verstohlenheit ist es, die mich am meisten kränkt. Ich sage es ihm, doch er reagiert unwirsch, abweisend, genervt.
    Nachdem wir das erste Spiel vergeigt haben, setzen wir auch das zweite und dritte in den Sand. Es sind eindeutige Niederlagen mit vier und sechs Toren, wir sind enttäuscht und frustriert, duschen schweigend und verlassen mit gesenkten

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