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Da gewöhnze dich dran

Da gewöhnze dich dran

Titel: Da gewöhnze dich dran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Giese
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schwimmen: ein Eisberg, ein U-Boot und ein asiatisches Teehaus, alles künstlich und vom Trubel des Ufers aus seltsam surreal, aber das soll es wohl auch sein. Doch ich entscheide mich dagegen und gehe die Strecke entlang. Björn hatte vor ein paar Wochen gemeint, ich solle mich auch anmelden, so ein Marathon sei schließlich alles nur eine Frage des Willens, aber ich habe ihm einen Vogel gezeigt. Ich und Marathon, nein, einen starken Willen habe ich nicht, zumindest keinen, der mich zu mehrstündigem Geradeauslaufen treibt. Trainiert habe ich auch nicht – es sind also weder die körperlichen noch die geistigen Voraussetzungen gegeben.
    Läufer passieren mich, locker, in kurzen Hosen, mit Startnummern und Pulsuhren. Sie schnaufen leise und schwitzen viel. Ich sehe ihnen zu, sehen ihnen nach, einem wie dem anderen. Je schneller sie laufen, desto mechanischer bewegen sich die Beine unter ihren Körpern, desto höher werfen sie die Hacken an den Po, desto ruhiger ist der Oberkörper. Wie unverkrampft sie aussehen – dabei haben sie noch viele Kilometer vor sich.
    Läufer um Läufer zieht an mir vorbei. Ich bleibe stehen und klatsche sie gemeinsam mit anderen Zuschauern auf die nächste Seerunde.
    «Weiter! Weiter!», ruft es aus der Menge.
    «Super!»
    Aufmunternde Pfiffe. Eine Gas-Hupe. Trommeln. Eine Trillerpfeife. Wieder Trommeln. Die Zeit vergeht, doch ich werde nicht müde, die Vorbeiziehenden zu betrachten, ihnen zuzusehen, sie anzufeuern.
    In der Nähe des Zieleinlaufs sehe ich Björn wieder. Auch er läuft entspannt, mit federnden Schritten, folgt dem blauen Luftballon des Vier-Stunden-Zugläufers. Doch das Rennen ist noch nicht vorbei, es geht gerade erst in die zweite Runde. Ich winke ihm zu, rufe seinen Namen, er sieht mich, lächelt, streckt beide Daumen in die Höhe.
    «Nessy», höre ich plötzlich eine harte Männerstimme hinter mir.
    Ich drehe mich um.
    «Iosif», sage ich und bin überrascht. «Was machst du denn hier? Anregung holen für unsere nächste Trainingseinheit?»
    «Nein», er winkt ab. «Handball und Marathon, das passt nicht. Meine Tochter läuft. Karolina. Ist zwei Jahre älter als Kinga.»
    Ich erzähle ihm, dass ein Freund teilnimmt – «mein Freund», korrigiere ich mich.
    An einem Fress-Stand kaufen wir uns eine Cola und eine Knackwurst und stellen uns wieder an die Strecke, um die Vorbeilaufenden zu beobachten. Jetzt, mehr als zweieinhalb Stunden nach dem Start, kommen die ersten Spaßsportler, Verkleidete im Hühnerkostüm, Nonnen, Pastoren und Wikinger. Die Sonne strahlt mit voller Kraft, der See liegt in hellem Licht. Iosif greift in die Brusttasche seines Hemdes und holt eine Sonnenbrille hervor. Ich streife meine Jacke ab. In Hörweite trommelt und tanzt eine Sambagruppe.
    «Karolina war immer schon eine gute Läuferin», sagt Iosif. «Kinga ist kräftig, ist eine gute Handballerin, Karolina ist zart. Und schnell. Schon in Kasachstan ist sie gelaufen, als kleines Kind, immer nur gelaufen in unserem Garten in Almaty. Da haben wir gelebt, weißt du? Ist die Heimat von meiner Frau und mir.»
    Ich nicke. «Wann seid ihr eigentlich hergekommen?», frage ich und stippe meine Wurst ins Ketchup.
    «Ist lange her. Fünfzehn Jahre. Die Kinder waren klein. Karolina sieben, Kinga vier. Weißt du, die Sowjetunion war kaputt, es war Chaos. Wir wollten ein besseres Leben für die beiden. Wir wollten, dass sie es gut haben. Und meine Frau und ich – wir haben deutsche Vorfahren. Wir wollten zurück in die Heimat unserer Väter. Wir wollten, dass unsere Kinder lernen, Deutsche zu sein. Ich hole mir noch einen Kaffee. Willst du auch?»
    Ich verneine. Nach fünf Minuten kommt er wieder, einen Becher dampfenden Kaffee und ein Stück Marmorkuchen in den Händen.
    «Fühlst du dich schon zu Hause hier, im Ruhrgebiet?», fragt er.
    Ich zucke mit den Schultern. «Ein bisschen», sage ich, bemerke aber sofort, dass ich untertreibe. «Oder doch, eigentlich schon.»
    Er schlürft den heißen Kaffee, bleckt die Zähne und beißt von seinem Marmorkuchen ab. «Ja», sagt Iosif, «manchmal geht es schnell. Man kommt und ist zu Hause. Vermisst du etwas?»
    Ich muss nicht lange überlegen. «Ruhe», sage ich. «Hier ist es nie richtig leise. Und immer sind irgendwo Leute. Egal, wo du hingehst: Es ist immer schon jemand da.»
    «Ja, das ist so. Es ist voll hier.» Er blickt auf die Uhr. «Drei Stunden. Komm, wir gehen zum Ziel.»
    «Ist Karolina so schnell?»
    «Drei dreißig ist ihre Bestzeit.»
    «Wow»,

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