Da gewöhnze dich dran
haben Bürgersteige mit Flatterband gesperrt, Leitern und Stühle aufgestellt, an denen Zettel warnen: «Achtung, Eiszapfen!» und «Vorsicht, Dachlawinen!»
Das Pflaster ist glatt, hier und da ist Wasser aus geplatzten Fallrohren gelaufen und gefroren. Ich gehe tapsig durch die Siedlung, die sich unter ihrem weißen Mantel behaglich und ruhig zeigt, vorbei am russischen Supermarkt, der Wäscherei und der Heißmangel, aus deren klingelnder Tür in diesem Moment eine dick vermummte Frau tritt und wabernd Dampf in die Luft steigt. Hinter den Fenstern der Wohnungen leuchten elektrisch betriebene Schwippbögen, Strohsterne kleben an Scheiben, hier und da sind am Rande morscher Holzrahmen Eisblumen gewachsen. In vier Tagen ist Weihnachten. Gestern war ich am Silbersee, der jetzt gefroren und schneebepudert in einem großen Schlund aus Matsch liegt.
Auf der Arbeit schäle ich mich aus meiner Expeditionskleidung. Es gibt noch ein paar Dinge zu ordnen vor den Feiertagen, nichts Wichtiges, nichts Zeitkritisches, aber dennoch Unerlässliches, um das neue Jahr nicht mit Ballast zu beginnen. Vor einigen Wochen hat Jost gekündigt, allerdings nicht, weil er eine neue Anstellung hat, sondern weil er mit einem Wohnwagen über den Balkan reisen möchte. Kaminski hat ihm ein Jahr unbezahlten Urlaub angeboten, aber Jost meinte, er habe genug gearbeitet, jetzt sei Schluss, jetzt werde er leben und reisen, seine Ersparnisse reichten dafür mindestens fünf Jahre aus, was danach komme, werde die Zeit zeigen. Am Freitag, als der Sturm aufkam, hatte er seinen letzten Tag, er hat Sekt und Salzkuchen mitgebracht – Mettbrötchen mit Loch in der Mitte. «Vermisst du ihn?», frage ich Sedat, der nun in einem halbverwaisten Büro sitzt und auf einen leeren Schreibtisch blickt.
«Er hat ja nie viel gesagt, aber jetzt, wo er weg ist, ist es schon leer hier.»
«Vielleicht kriegst du bald wieder Verstärkung.»
«Ich bin mir nicht sicher, ob der Chef die Stelle neu ausschreibt.»
«Warum nicht? Wir haben doch gut zu tun. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wer Josts Arbeit machen soll. Du etwa?»
«Oder Thorsten.»
«Das letzte Mal, als ich etwas Graphisches von ihm gesehen habe, sagte er: ‹Den grünen Hintergrund musst du dir vorstellen, hier links ist dann später die Navigationsleiste, und wenn du auf Eingabe drückst, sieht das alles noch etwas rudimentär aus.› Es war eine weiße Seite mit ein paar Knöppen drauf.»
«Hast du gerade ‹Knöppe› gesagt?»
«Wieso?»
«Fehlt nur noch, dass du auch ‹dat› und ‹wat› sagst.»
«Vergiss es. Aber schön ist es hier, seit Schnee liegt.»
«Meine Kinder haben am Wochenende unsere Familie nachgebaut, lauter Schneemänner, die ganze Mischpoke, mit Möhrennasen und Steinaugen, und meine Mutter hat sogar ein Kopftuch und einen Damenbart aus Ästen gekriegt.»
«Hoffentlich hält kein Nazi eurer Omma ein Feuerzeug unter den Hintern. Hier in Dortmund gibt’s ja einige davon.»
«Ach, der denkt doch, das wäre eine tüchtige deutsche Hausfrau. Schließlich ist sie ganz weiß.»
«Nessy, kannste ma kommen? Ich muss watt mit dir bereden.» Melanie steht in der Tür, in Fellstiefeln und Thermohose, und sieht im Gesicht aus wie nach einer zünftigen Après-Ski-Party. Ich nicke Sedat zu, wir gehen in unser Büro, Melanie schließt die Tür.
«Ich hab ihn heute Nacht rausgeschmissen.»
«Dein Nussärschchen?»
«Er wollte bei mir einziehen.»
«Huch.»
«Er macht auch gar nich in Badteppiche. Zumindest nich in so hochwertige, sondern nur in diese komischen Muscheldinger, die et im Baumarkt gibt. Der Mercedes is auch nich seiner, den hatter jedes Mal geliehen, um mich zu beeindrucken.»
«Du hast ihn aber doch auch belogen.»
«Da bin ich auch nich mehr mit klargekommen. Als er mir dann sachte, dat er gerne bei mir einziehen will, weil er dann ja ’n Haufen Geld sparen könnte, da hab ich ihm gesacht, datter sich den Weech vom Schlafzimmer zur Tür gar nich ers zu merken brauch, denn rückwärts geht er den sowieso nich mehr.»
«Was sagt denn Jürgen Klopp dazu?»
«Dem hab ich direkt geschrieben. Der findet das gut.»
«Meinst du, er kommt jetzt mal bei dir vorbei?»
«Weil ich wieder auf’m Markt bin?»
Ich ziehe die Brauen hoch und nicke. Dann sage ich: «Vielleicht solltest du dir mal jemanden Normalen suchen. Jetzt ernsthaft.» Ich gebe Katrins Weisheit weiter. «So einen ganz Stinknormalen. Einen Sachbearbeiter für die Liebe.»
«Du meinst, einen mit Stirnglatze
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