Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
Musiker gesehen, der sich im Laden des Bruders seinen Lebensunterhalt verdiente. Jetzt geriet dieses Bild ins Wanken. Es kam hinzu, dass Serkan eine Ader für Kunst und Literatur hatte und sich auch in technischen Dingen auskannte – eine sehr seltene Kombination. Welcher Künstler konnte mit einem Computer mehr anfangen, als ihn ein- und wieder auszuschalten?
Rubin ging zum Fenster und schaute auf den Marktplatz hinab. Der Löwenbrunnen war deutlich zu sehen. Das Blattgold der Figuren glänzte matt.
Als er sich wieder Irmgard zuwandte, hatte sie die Gläser bereits zum zweiten Mal gefüllt.
»Na gut, einen noch«, sagte Bernstein.
Sie prosteten einander zu. Ihre Blicke trafen sich. Rubin sah, dass seine alte Lehrerin Tränen in den Augen hatte. Er kippte den Wacholder auf einen Zug herunter. Das Licht in seinem Inneren brannte heller, und für einen Moment drehte sich der Raum, rotierte einmal um die eigene Achse und kam wieder zum Stehen.
Schon in der Tür vernahmen Rubin und Bernstein wieder den hellen Signalton aus Irmgards Laptop. Sie rief energisch irgendetwas auf Französisch.
Im Treppenhaus sagte Bernstein: »Ich hatte mir mehr erwartet.«
»Wir müssen mit dem arbeiten, was wir kriegen können. Wolltest du nicht mit der Psychologin reden?«
»Ich habe in einer halben Stunde einen Termin mit ihr.«
»Gut, Bernstein«, sagte Rubin.
Er nahm die Gerüche im Treppenhaus wieder deutlich wahr, bloß etwas beißender als eben noch, überdies wirkte die Dunkelheit gedämpfter und so, als ob sie künstlich in die Breite gezogen worden wäre. Die drittletzte Stufe knarzte so laut wie zuvor.
Draußen auf dem Marktplatz fühlte er eine taube Benommenheit. Er riss sich zusammen, schärfte seinen Blick und sah wieder klar. Die Flamme in seinem Inneren erlosch an der kalten, schneidenden Luft. Bloß das Gefühl der Wärme, das er bei seiner alten Lehrerin empfunden hatte, war noch immer lebendig.
10
Carl Bernstein schielte durch das Verkaufsfenster von Hassans Mini-Supermarkt. Der Laden war, soweit er erkennen konnte, menschenleer. Er horchte auf Geräusche von drinnen und nahm die dumpfen Klänge von orientalischer Musik wahr.
Augenblicklich sah er vor seinem geistigen Auge eine Karawane in der Sahara, sah Unmengen von Sand und einen blassblauen Himmel. Kurzerhand erfand er stolze Beduinen und Haremsdamen dazu, in wallenden weißen Gewändern und durchsichtigen Schleiern. Eine Band, deren Mitglieder allesamt rosafarbene Kaftane trugen, spielte in einer Oase im Schatten von Feigenbäumen.
Er schnippte den Rhythmus, zumindest solange er dem Beat der Musik aus Hassans Mini-Supermarkt folgen konnte. Denn das Gejohle der Jugendlichen hinter ihm, die am Löwenbrunnen einen Tennisball hin und her schoben, war lauter. Die Gespräche der Kurgäste, die über den Marktplatz bummelten, die Feinheiten der Fachwerkarchitektur bestaunten und sich darüber austauschten, ebenfalls.
Bernstein zuckte die Schultern, wandte sich von Hassans Laden fünf Schritte nach rechts und drückte entschlossen die Klingel der Praxis von Psychologin Sybille Meyer.
»Ja«, klang es träge aus der Gegensprechanlage.
»Hier ist Dr. Jekyll mit Mr. Hyde, wir hätten gerne Fräulein Freud gesprochen.«
»Wie bitte?«
»Nur ein Scherz, Frau Meyer. Carl Bernstein vom Bad Löwenauer Anzeiger hier.«
Ein Summton erklang, Bernstein presste die Schulter gegen die Tür und schwang sich in das helle Treppenhaus.
Es war kaum eine Stunde vergangen, seitdem der Termin zum Interview vereinbart worden war. Es war ein Kinderspiel gewesen, Sybille Meyer hatte augenblicklich zugesagt. Die wortreich und in sanften Tönen vorgetragene Ankündigung Bernsteins, ihre Angelegenheit zu einem Top-Tagesthema zu machen, hatte die Neugierde der Psychologin geweckt und ihr allgemeines Misstrauen gegenüber der Presse gedämpft.
Für das Interview hatte Bernstein einen anthrazitfarbenen Wollanzug gewählt, den er auf einem Flohmarkt in Soho erstanden hatte. Darunter eine in Rauten gemusterte Weste und ein champagnerfarbenes Hemd mit Haifischkragen. Um den Hals hatte er ein schlichtes rotes Tuch gebunden, seine Füße steckten in groben wasserabweisenden Wanderschuhen.
»Ich freue mich sehr, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben«, sagte er.
Sybille Meyer musterte ihn abschätzend. Bernstein spürte deutlich den Scanner ihrer Augen über seine Garderobe laufen. Es amüsierte und ermunterte ihn.
»Bitte folgen Sie mir«, sagte sie neutral.
Sie trug ein
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