Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
Sweatshirt und eine weit ausgestellte Hose mit dezentem Batikmuster. Hinter einer Brille mit bunten Bügeln erschienen ihre Augen schleierhaft, sodass ihr ungeschminktes Gesicht auf Bernstein wie eine Maske mit verbundenen Augen wirkte.
Sie führte ihn durch einen Gang mit medizinischen Werbeplakaten und naiven Kindermalereien.
»Ich muss mich nochmals dafür entschuldigen, dass ich bisher keine Zeit hatte, mich Ihrer Sache anzunehmen«, sagte Bernstein. »Lärmbelästigung ist eine schwerwiegende Angelegenheit. Aber was ist das denn?«
Er starrte auf ein abstraktes Aquarell an der Wand.
»Alles, was recht ist: diese Farben, diese Energie, diese Vitalität! Ich bin überwältigt!«
»Das hat meine Nichte gemalt, kurz nach der Scheidung ihrer Eltern«, sagte Sybille Meyer trocken.
Die Psychologin führte Bernstein in ihr Arbeitszimmer. Wie die meisten Räume in alten Bad Löwenauer Fachwerkhäusern hatte es eine niedrige Decke und schmale Fenster. Es befanden sich kaum Möbel in dem Zimmer.
Bernstein legte den Finger an die Lippen und zischte: »Pst!«
Er legte den Kopf auf die Seite und blickte erwartungsvoll in Richtung Sybille Meyer.
»Ich lausche und lausche und – höre deutlich: Musik!«
»Das geht den ganzen Tag so. Das alte Haus ist einfach hellhörig«, antwortete die Psychologin ohne Leidenschaft.
»Fluch und Segen unserer schönen Fachwerkarchitektur.«
Sybille Meyer ließ sich an ihrem Schreibtisch mit Glasplatte nieder, auf dem sich neben einem Computermonitor nur eine getöpferte Teetasse und ein angebissener Apfel auf einer Untertasse befanden.
Sie wies Bernstein an, an der Patientenseite des Tisches Platz zu nehmen. Er sah sich um und wunderte sich.
»Komisch, haben Sie gar kein Sofa?«
Die Psychologin überhörte seine Frage, während Bernstein ein Mikrofon vor ihr aufbaute. Er wusste: Die Menschen nehmen sich und ihre Antworten wichtiger, wenn sich ein Mikrofon vor ihrer Nase befindet.
»Frau Meyer, Sie sind eine stadtbekannte Ärztin, genießen einen untadeligen Ruf, Ihre Patienten begeben sich vertrauensvoll in die Obhut Ihrer helfenden Hände. Könnten Sie kurz für unsere Leser beschreiben, inwiefern die Lärmbelästigungen aus Hassans Laden Sie an der Ausübung Ihrer Tätigkeit hindern?«
Die Psychologin brachte sich auf ihrem Stuhl in Position und fixierte abwechselnd Bernstein und das Mikrofon.
»Es ist besonders kontraproduktiv in den Morgenstunden, wenn ich mit meinen Patienten Entspannungsübungen abhalte.«
Sybille Meyer sprach in einem leisen, dumpfen Tonfall. Für Bernstein klang es, als habe sie eine heiße Kartoffel oder einen Wattebausch in der Backe. Bei dieser Stimme würde er als Patient auf der Stelle einschlafen.
»Haben Sie eine Vorstellung, wie der Lärm nach oben dringt?«
»Durch den schlecht isolierten Fußboden, vermute ich, und durch das Lüftungsrohr dort hinter Ihnen.«
Bernstein drehte sich um. An der Wand befand sich ein länglicher, schmaler, etwa zwanzig Zentimeter tiefer Kasten, der vom Boden bis zur Decke reichte. In Kopfhöhe war eine Abdeckung mit Lamellen angebracht, die über einen Schieber verschließbar war. Die Lamellen waren geschlossen, allerdings nicht vollständig.
»Das alte Ding schließt nicht richtig«, sagte Bernstein.
Die Psychologin nickte.
»Gestatten Sie?«, fragte Bernstein und deutete auf den Kasten.
»Bitte.«
Bernstein sprang auf und legte sein Ohr an die Lamellen. Zum ersten Mal, seit er in der Praxis war, hörte er tatsächlich etwas. Es erklang gedämpft die Musik von vorhin. Das war alles.
»Erstaunlich«, sagte er.
»Nervtötend, würde ich eher sagen.«
»Haben Sie gestern Abend gegen dreiundzwanzig Uhr etwas Außergewöhnliches gehört? Schreie, Stöße zum Beispiel oder einen Peitschenknall oder Pistolenschuss?«
Sybille Meyer warf Bernstein einen missbilligenden Blick zu. »Nein, natürlich nicht! Ich weiß, worauf Sie anspielen. Von mir können Sie leider nichts erfahren. Ich habe nichts gehört.«
»Haben Sie nie mit Hassan oder Serkan wegen des Lärms gesprochen?«
»Unzählige Male.«
»Und?«
»Sie haben sich tausendfach entschuldigt und geschworen, dass es nie wieder vorkommen wird.«
»Lassen Sie mich raten: Danach blieb alles beim Alten.«
»So ist es leider.«
»Haben Sie häufiger mit Hassan oder mit Serkan gesprochen?«
»Fast ausschließlich mit Hassan. Serkan blieb im Hintergrund. Er war eher der Typ stiller Brüter. Er war sehr auffällig ruhig, fast könnte man sagen sediert.
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