Da liegt ein Toter im Brunnen - ein Krimi mitten aus der Provinz
Ich hatte schon den Verdacht einer Depression.«
»War er bei Ihnen in Behandlung?«
Sybille Meyer stutzte, schlug die Augen auf. »Darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben, Herr Bernstein«, sagte sie und nahm einen Schluck von ihrem Tee. Als sie die Tasse mit einem deutlichen Schlag auf der Glasplatte des Schreibtisches absetzte, schien ihr etwas einzufallen.
»Entschuldigung, ich bin eine schlechte Gastgeberin. Ich habe ganz vergessen, Ihnen Tee anzubieten. Möchten Sie?«
»Gerne.«
»Ingwer-, Yogi- oder Ayurveda-Tee?«
Bernstein reckte den Kopf in die Höhe und sagte in vollem Brustton: »Yogi-Tee, meine Leidenschaft!«
Sybille Meyer verschwand in die Teeküche. Bernstein blieb an der Wand stehen und legte wieder sein Ohr an den Lüftungsschacht. Sehr leise und vage drangen Klänge an sein Ohr. Er dachte: So sind die Menschen verschieden in dem, was sie von der Welt wahrnehmen.
Wenn er seine Kolumne schrieb, dann mochte er die Stille nicht. Sie war ihm aufdringlich. Er musste Musik um sich haben. Beim Schreiben hörte er am liebsten lauten Punk: The Clash – »London calling, the war is declared!« Oder The Kills. Oder Bad Tempered Moon: »I don’t have a face and a name, but slowly I’m coming alive« . Wenn die Musik um ihn herum in Aufruhr war, entwickelte er die besten Gedanken.
Bernstein lauschte wieder. Jetzt vernahm er Stimmen. Nein, nicht mehrere Stimmen, nur eine: Hassans Stimme, dunkel, dumpf, halb durch die Windungen des Lüftungsschachtes verschluckt. Es war unmissverständlich, dass er schrie, seine Stimme überschlug sich, laut, anklagend, unversöhnlich.
Doch wen schrie er an? Bernstein hörte keine Antworten, keinen Wortwechsel. Überhaupt waren keine einzelnen Wörter zu verstehen. Es war ein einziger Brei aus Klängen, der allmählich die Lamellen zum Vibrieren brachte.
Bernstein öffnete den Schieber, und plötzlich war es so, als ob eine Wolldecke von einem Lautsprecher entfernt worden wäre. Jetzt konnte Bernstein einzelne Worte vernehmen.
Er hörte den Namen »Igor«, wieder und wieder. Hassan schrie ihn laut heraus.
»Ich kriege dich, Igor. Ich mach dich kalt!«
Noch immer war von Igor keine Reaktion zu hören. Bernstein begriff. Igor war gar nicht im Laden, Hassan telefonierte!
Die letzten Worte, die Bernstein klar verstehen konnte, lauteten:
»Ich weiß, wo du wohnst!«
Es gab einen Knall, einen Schlag, und Bernstein hörte Hassan auf Türkisch fluchen.
Dann herrschte Stille, auch die Musik war verstummt.
Bernstein griff zu seinem Handy und wählte die Nummer von Rubin.
»Ja, Bern–«
»Wo bist du?«
»In der Inspektion.«
»Komm augenblicklich zum Marktplatz. Es zählt jede Sekunde!«
Bernstein packte sein Mikrofon und sprang in den Gang. Durch die halb geöffnete Tür zur Teeküche rief er:
»Tut mir leid, Frau Meyer, ich erhalte gerade eine Anfrage für ein außerordentliches Gipfeltreffen mit internationalen Geschäftsleuten. Ich melde mich bei Ihnen.«
Bernstein schwang sich die Treppe hinunter und stand wenige Momente später atemlos vor Rubin auf dem Marktplatz. Rubin zog seinen Mantel über und sah ihn verständnislos an.
»Sagt dir der Name Igor etwas?«, keuchte Bernstein.
»Igor? Ja, Hassan hat von einem Igor gesprochen. Zwischen Serkan und ihm gab es offenbar Spannungen.«
»Ich fürchte, Hassan ist gerade im Begriff, diese Spannungen auf sportliche Weise abzubauen. Es riecht nach Ärger!«
»Woher weißt du das?«
»Später, mein Lieber, später. Zunächst müssen wir diesen Igor finden.«
Bernstein wählte eine Kurzwahlnummer und begrüßte seinen Gesprächspartner am anderen Ende auf Russisch. In dieser Sprache klang seine Stimme doppelt so tief wie sonst. Alles, was Rubin verstehen konnte, waren die Worte »Igor« und »do swidanja«: auf Wiedersehen.
»Es ist ein unschätzbarer Vorteil, in allen Teilen der Stadt seine Quellen und Informanten zu haben«, intonierte Bernstein mit breitem Grinsen. »Ich weiß, wo Igor wohnt. Und wenn mich nicht alles täuscht, empfängt er in diesen Minuten einen höchst ungebetenen Besucher.«
»Ist es weit von hier?«
»Ein großer Schritt für die Menschheit, ein Katzensprung für uns!«
11
Hinter Hassans Mini-Supermarkt überquerten sie eine schmale Gasse, dann liefen sie schnurgerade weiter, vorbei an der Metzgerei und dem Nagelstudio mit seinem Kundenfänger, der vollständig den Bürgersteig blockierte. Freitag gefiel die unverhoffte Laufeinlage. Er bellte vor Vergnügen.
»Nach links!«,
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