Da muss man durch
geblieben, weil ich einen Arzttermin hatte. Jetzt ist es amtlich. Ich bin im zweiten
Monat. Timothy und ich wollen es der Familie sagen, wenn die geschäftlichen Dinge erledigt sind.»
Die geschäftlichen Dinge. Damit meint sie mich. Ich lasse mich wieder auf den Felsen sinken, auf dem wir beide zuvor gesessen
haben, und wende mich zum Meer. Ein kurzes Schweigen.
«Alles okay?», fragt Iris.
Ich nicke, ohne mich nach ihr umzuwenden.
«Ich würde jetzt gern wieder zurückgehen», setzt sie nach.
Wieder nicke ich. Ich habe das Gefühl, sie zögert.
|94| «Dann also … bis später», sagt sie nach einer kurzen Weile, und ich spüre, dass sie sich nun langsam entfernt.
Das Meer plätschert gegen die Felsen, der Himmel ist strahlend blau, der Wind jagt Wolkenfetzen vor sich her. Der Horizont
sieht aus wie von einem Rasiermesser gezogen. Zumindest vermute ich das. Genau erkennen kann ich es nicht, weil mir gerade
ein paar Tränen im Weg sind.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dasitze und meinen Gedanken beim Umherschwirren zusehe. Vielleicht eine Stunde, vielleicht
auch zwei. Irgendwann bemerke ich, dass die Sonne ein beträchtliches Stück gewandert ist. Es muss früher Nachmittag sein.
Ich will mich auf den Rückweg machen, da sehe ich plötzlich die
Bertolt Brecht
. Die Yacht der von Beutens nimmt mit Vollgas Kurs auf ein winziges Schlauchboot, das aufs offene Meer hinausgetrieben wird.
Erst bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass es gekentert ist. Ein paar Meter davon entfernt kämpft ein Mensch mit den Fluten.
Schockiert stelle ich fest, das es sich um den kleinen Alphons handelt, der wild mit den Armen rudert, um nicht unterzugehen,
aber dennoch regelmäßig für Sekundenbruchteile von einer Welle verschluckt wird.
Die
Bertolt Brecht
ist nun bei Alphons angelangt, Schamski bugsiert das Schiff geschickt in die Nähe des Jungen, springt auf die Badeplattform
und hat Alphons im nächsten Moment am Kragen gepackt. Ich atme auf, derweil Schamski den zappelnden Alphons aus dem Wasser
zieht und Melissa hochreicht, die den Jungen sofort in ein Handtuch hüllt. Während Schamski mit einem Bootshaken nun auch
das gekenterte Schlauchboot an Bord zieht, kümmert sich Melissa um den Jungen, der ziemlich erschrocken, aber ansonsten
unversehrt zu sein scheint.
|95| Die
Bertolt Brecht
dreht ab und nimmt Kurs auf die heimische Bucht, ich mache mich ebenfalls eilig auf den Rückweg.
Im Hause von Beuten herrscht helle Aufregung, als ich eintreffe. Der kleine Alphons liegt auf einem Sofa, gehüllt in mehrere
Decken, als hätte er Stunden im eisigen Wasser des Nordatlantiks verbracht. Blaue Lippen hat Alphons nicht, es scheint eher,
als würde er ein wenig schwitzen. Die Familie ist komplett versammelt und hängt an Melissas Lippen, die gerade anschaulich
beschreibt, wie Schamski sich todesverachtend in das von Haien wimmelnde Mittelmeer stürzt, wo er haushohe Wellenberge überwindet,
um Alphons in letzter Sekunde Neptun höchstpersönlich zu entreißen.
Zu behaupten, sie übertreibe ein bisschen, wäre eine sehr schmeichelhafte Umschreibung für Melissas Seemannsgarn.
Ihre Version der Geschichte beinhaltet auch, dass Schamski den bewusstlosen und bereits blau angelaufenen Jungen mittels
Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung wiederbelebt. Fehlt eigentlich nur noch, dass Schamski aus Treibgut eine Kinderintensivstation
gebastelt hat, dann könnte man langsam über eine Verfilmung nachdenken.
Jene, die ebenfalls die Wahrheit kennen und der Geschichte die Brisanz nehmen könnten, schweigen. Alphons scheint zu ahnen,
dass ihm sein jüngstes Husarenstück Streicheleinheiten der Familie und Extraportionen Süßigkeiten einbringen könnte. Schamski
sonnt sich in seinem Erfolg. Er hat auf den Schreck von Karl einen Brandy in die Hand gedrückt bekommen und steht nun da wie
Hemingway nach einem ausgefüllten und erfolgreichen Jagdtag. |96| Sicher rechnet Schamski nicht mit Süßigkeiten, vielleicht aber mit Streicheleinheiten von Melissa.
Die beschließt ihre blumigen Schilderungen, indem sie Schamski einen Vorgeschmack auf seine Belohnung gibt: «Ich habe Guido
selbstverständlich gebeten, heute hierzubleiben. Das Mindeste, was wir für ihn tun können, ist, ihn zum Essen einzuladen,
finde ich.» Beim letzten Satz hat Melissa sich bei Schamski eingehakt, als wolle sie den Anwesenden deutlich machen, dass
sie ihren Helden heute ganz sicher nicht mehr vom Haken lässt. Die
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