Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

abgesehen davon liebt er sie sehr. Er mag die lustigen Geschichten, die sie ihm manchmal nach der Schule erzählt, und die Art, wie sie gleichzeitig kochen, telefonieren, Radio hören, den Pudel füttern, Wäsche aufhängen und im Internet surfen kann. Sie ist eine coole Ma. Die Jungen aus seiner Klasse beneiden ihn und wollen ständig zu ihm nach Hause kommen.
    Aber Decan mag lieber die Stille.
    Er hat ein eigenartiges Rauschen in seinen Gedanken, das ihn dazu bringt, alleine durch die Straßen zu wandern und die Lichter hinter den fremden Fenstern zu zählen. Er kennt alle Primzahlen, die man kennen kann, er weiß die Namen sämtlicher amtierenden Präsidenten, er kann mühelos einen Computer zusammenbasteln, er ist in der Lage, Coq au Vin zuzubereiten, und wie die drei Schiffe von Kolumbus hießen, wo sie gebaut wurden und wo sie ankerten, wusste er schon im Kindergarten.
    Er ist erst zwölf Jahre alt.
    Aber sein Gehirn ist ihm Lichtjahre voraus.
    Seine Mutter findet das niedlich.
    Sein Vater weiß nichts davon.

    »Dad?«, fragt Decan jetzt in den Hörer. »Bist du noch dran?«
    Gavin West räuspert sich genervt. Natürlich ist er noch dran. Wo soll er sonst sein. Er ist immer am Zug.
    »Was willst du?«, fragt er schließlich unfreundlich. »Dein Geburtstag ist erst in vier Monaten. Und alles, was du haben willst, wirst du kriegen. Schick mir einfach eine Liste.«
    »Ich möchte keine Geschenke«, sagt Decan leise. »Ich habe alles, was ich brauche.«
    »Warum rufst du dann an?«, fragt Gavin West.
    »Nur so«, sagt Decan. »Weil ich gerne deine Stimme höre.«
    »Wie bitte!? Warum!?«, fragt Gavin West ungehalten, denn so einen blöden Satz hat er noch nie gehört. Was kann an einer Stimme schön sein? Nicht einmal die stöhnenden Tussis von der Sex-Hotline findet er akustisch interessant. Also, was sollte sein Sohn an seiner Stimme finden?
    »Na ja, du bist mein Dad«, erwidert Decan unsicher. »Manchmal vermisse ich dich.«
    »Also, jetzt hör mir mal gut zu, Decan«, sagt Gavin West ungeduldig und trommelt dabei mit den Fingerknöcheln seiner linken Hand gegen das Lenkrad. »Ich habe mit deiner Mutter geschlafen, ich habe sie geheiratet, ich habe mich wieder scheiden lassen, und bei all dem Drama bist du entstanden. Das macht dich vielleicht zu meinem Sohn, aber es macht mich noch lange nicht zu deinem Vater. Kapier das endlich. Ich werde dafür sorgen, dass es dir finanziell immer gutgeht, ich werde weiterhin an Weihnachten und an deinem Geburtstag vorbeikommen und dir Geschenke bringen, aber ich will nie wieder einen von diesen zeit- und nervenraubenden Anrufen von dir bekommen! Hast du das verstanden, Decan?«
    Einen Augenblick lang ist es still in der Leitung.
    Dann sagt Decan: »Ja, Dad.«
    »Und nenn mich nicht Dad«, sagt Gavin West.
    »Okay, Gavin«, sagt Decan.
    »Gut«, sagt Gavin West.
    »Also dann«, flüstert Decan.
    »Also dann«, sagt Gavin West.
    Die beiden legen auf.
    Erst der Vater.
    Dann der Sohn.

    Gavin West. Erfolgreichster Mann in der Stadt am Waldrand, angesehener Finanzexperte, Besitzer von acht Häusern und Vorsitzender des VIP-Golfclubs.
    Und der Rest der Wahrheit?
    Er ist nicht ganz so wahrhaftig.
    Gavin West, der einsamste Mann in der Stadt am Waldrand. Nachts wälzt er sich unruhig umher, weil er nicht einschlafen kann. Er fürchtet sich vor seinen Träumen, denn sie sind alle nackt und leer. Er macht niemals Urlaub, er hat seine Jachten nur, um anzugeben, und seine Ferienhäuser stehen verlassen an den schönsten Stränden der Welt.
    Gavin West. Er ist in allen Bordellen und Striplokalen bekannt. Die leichten Mädchen lachen ihn aus, weil er sie dafür bezahlt, dass sie ihm zuflüstern, wie sehr sie ihn lieben.
    Bis in die Unendlichkeit.
    Für immer. Und mehr.
    Sie nehmen sein Geld und setzen sich auf seinen Schoß, sie schlingen ihre hübschen Arme um seinen Hals und raunen ihm mit lipglossbenetzten Schmollmundlippen zu: »Wir lieben dich, Gavin West, wir lieben dich so sehr.«
    Gavin West schließt jedes Mal seine Augen, wenn die Mädchen anfangen, für ihn zu flüstern, keiner kann sagen, was er sieht. Aber es scheint ihm zu gefallen, denn sein Atem wird heftig und schwer. Er bäumt sich auf. Er fängt an zu zittern. Die Mädchen flüstern ein weiteres Mal: »Wir lieben dich.«
    Und dann freuen sie sich, wenn er kommt.
    Weil er anschließend geht.

    Gavin West. Der einzige Mensch in der Stadt am Waldrand, der noch nie in seinem Leben einen Freund hatte. Der einzige Mensch