Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
weit und breit, der Ignoranz nicht von Geldscheinen unterscheiden kann und keine Ahnung davon hat, wie es sich wohl anfühlen mag, ein Herz zu besitzen.
Gavin West. Vater von drei Söhnen.
Aber ab morgen.
Sind es nur noch zwei.
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L incoln Reed, dreiundzwanzig Jahre alt. Er ist Frontsänger und Gitarrist der Band Rejected by choice. Seine Kindheit hat er in der Garage seines besten Freundes Mike verbracht, um dort jede freie Minute mit Akkorden und Beats zu füllen. Mittlerweile gehört ihm das größte Studio in der Stadt am Waldrand, und seine Songs laufen ununterbrochen im Radio. Mike ist immer noch sein bester Freund, da hat sich nichts geändert, und auch sonst ist Lincoln eigentlich genau derselbe Mensch geblieben wie damals, bevor er berühmt geworden ist. Er hat weder Interesse daran, Hotelzimmer zu zerschrotten, noch mit all seinen weiblichen Fans zu schlafen. Er mag keine Drogen, trinkt selten Alkohol und weiß nicht, warum es Menschen gibt, die in jedem Satz zweimal »fuck« oder »geil« sagen müssen.
Lincoln Reed ist ein genügsamer Mensch, er ist der jüngste von drei Brüdern und hat gelernt, hinaufzusehen und nicht auf andere herab. Sein Erfolg hat ihn nicht abheben lassen, sondern sein Bewusstsein auf dem Untergrund der Vielfältigkeit eines jeden Augenblicks verankert. Er hat gelernt, jedes Gefühl zu vertonen, jedem Moment einen Klang zu verleihen und jedes Wort mit einer Melodie zu unterstreichen. Ja. Lincoln Reed kennt das Knistern der einbrechenden Stille und den Einbruch der stillen Symphonie. Er weiß, welche Textzeilen seine Fans nie wieder vergessen werden, er weiß, welche seiner Inhalte nur die wenigsten verstehen, und er weiß auch, wie wunderbar leise der Raum in seinen Gedanken ist, wenn alle um ihn herum zu schreien beginnen.
Lincoln Reed. Er hat dunkelbraune, kurze Haare, braune Augen und eine schmächtige Figur. Er ist der Kleinste in der Band, aber trotzdem der Größte. Seine Freunde schätzen ihn, seine Familie ist stolz auf ihn, und sein weiß-grau gestreifter Kater begleitet ihn auf jeder Tour.
Es gibt einen Songtext, den Lincoln Reed mit sechzehn Jahren geschrieben und bisher nicht veröffentlich hat. Niemand kennt diesen Text, abgesehen von seinem besten Freund Mike. Und Mike würde niemals ein Geheimnis verraten, das Lincoln ihm anvertraut hat. Die beiden kennen sich schon aus dem Sandkasten, und abgesehen von ein paar Rangeleien wegen Buddelförmchen oder Schokoriegeln haben die beiden sich noch nie ernsthaft über etwas gestritten. Sie wohnen im selben Haus, Lincoln in der dritten Etage auf der linken Seite, Mike in der dritten Etage auf der rechten Seite. Im Haus gegenüber wohnt Lincolns Oma, die coolste Frau in der Stadt am Waldrand. Sie ist fast neunzig und vergisst zwar hin und wieder, wie ihre beiden Kinder und ihre vier Enkel heißen – aber sie kennt jeden Songtext von Lincoln auswendig und weiß, wie man eine Xbox bedient. Am Wochenende sind Lincoln und Mike immer bei der Oma und zocken mit ihr Need for Speed oder Viva Piñata. Sie fahren gemeinsam ihre Autos zu Schrott oder züchten pinke Kaninchen mit Zauberhüten und leuchtend gelbe Pferde mit Piercings in den Ohren. Lincolns Oma serviert dazu ihre selbstgebackenen Plätzchen, Mike bringt Cola und Gummibärchen mit, und Lincoln sorgt für Chips und Salzfische mit Sesamkörnern.
Lincolns Oma sagt oft, dass es nichts Besseres gäbe, als die Oma von zwei gut erzogenen Rockstars zu sein. Mike sagt oft, dass es nichts Krasseres gäbe, als von der hippsten Oma aller Zeiten adoptiert zu werden, und Lincoln Reed sagt oft gar nichts, und nimmt seine Oma einfach in den Arm, weil er weiß, dass es nicht leicht ist, alt zu werden.
Lincoln Reed. Er liebt die Bühne und die tobende Menge, er liebt die kreischenden Fans und die bewegten Gesichter. Er liebt den Nachhall des Unterbewusstseins seiner Texte und den Ausklang eines jeden Augenblicks.
Er liebt die Stille.
In jeder Lautstärke.
Er liebt das Licht und die Nacht und die verwischten Grenzübergänge der aufdämmernden Gezeiten.
Lincoln Reed. Er liebt das Dasein mit einem bewussten Sein. Und er liebt das Gefühl, nicht gebunden zu verweilen, in einem Bündnis aus vorgefertigten Minuten und unterwürfigen Stunden.
Lincoln Reed. Er kennt den Verband, der die Zeit zusammenhält, mit all ihren offenen Wunden.
Und er weiß.
Wie man ihn trägt.
Lincoln Reed hat keine Freundin, denn er war noch nie ernsthaft verliebt, und Menschen wie Lincoln sind lieber
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