Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
seitenweise Fanmails, Freundschaftserklärungen und Heiratsanträge. Aber niemals verliebt sie sich, niemals lässt sie sich lieben, niemals verrät sie irgendwem ihren richtigen Namen; und niemals spricht sie mehr als ein oberflächliches Wort.
Evelyn Starlet, meistbegehrte Frau in der Stadt am Waldrand. Sie steht gerne im Rampenlicht, sie liebt es, angestarrt und bewundert zu werden. Aber sie hasst es, wenn ihr jemand zu nahe kommt und eine Hand nach ihr ausstreckt, um sie zu berühren.
Evelyn Starlet. Eigentlich weiß niemand irgendetwas über sie. Oder von ihr.
Aber auf der nächsten Ausgabe des großen Wochenmagazins wird in dicker schwarzer Druckschrift die Schlagzeile dieses Jahres stehen:
Evelyn Starlet
Face of the year 2011.
Body of glory 2012.
Sexiest woman alive 2013.
Death by anorexia 2014.
13
H ans Winter, Verleger von Fitch&Fiction, sechzig Jahre alt, fünfunddreißig Jahre glücklich verheiratet, zwei Söhne, zwei Schwiegertöchter, zwei Millionen Euro schwer, aber noch schwerer ist sein Herz. Denn an diesem Tag, der zeitlich nirgendwo eingeordnet werden kann, sitzt er in seinem Büro und fragt sich, warum er Bücher verlegt. Ihm will keine gute Antwort darauf einfallen, also nimmt er den Telefonhörer in die Hand und ruft seinen ältesten Sohn an.
»Warum verlegt man Bücher?«, fragt Hans Winter.
»Damit sie gefunden werden können«, erwidert sein Sohn frech. »Was ist los mit dir, Dad? Kommst du jetzt in die Midlife-Crisis? Wir dachten, die hättest du übersprungen.«
Hans Winter lächelt gequält, obwohl sein Sohn durch den Telefonhörer hindurch sowieso nichts sehen kann. Aber er fühlt sich beobachtet, seine rauhe Stimme gibt schon viel zu viel von ihm preis. Er möchte nicht, dass sein Sohn weiß, wie bedrückt er in diesem Moment ist.
»Hey, Dad«, sagt der nichtsahnende Sohn währenddessen gut gelaunt. »Warum wird im Jahre 2050 die Bibliothek der allumfassenden Geisteswissenschaft für freiwillige Leser geschlossen?«
»Keine Ahnung«, sagt Hans Winter und reibt sich über die schmerzende Stirn. »Gibt es die überhaupt?«
»Nein«, erwidert der Sohn seufzend. »Das ist ein Witz, Dad. Also, weißt du die Antwort?«
»Nein«, sagt Hans Winter.
»Das Buch wurde gestohlen«, erklärt der Sohn und lacht vergnügt vor sich hin.
»Haha«, sagt Hans Winter. Er ist nicht in der Stimmung für Späße, obwohl er sonst immer gerne lacht. Und er weiß auch gar nicht so genau, warum er seinen Sohn angerufen hat. Nur wegen dieser einen Frage nach dem verlegten Grund? Auf einmal kommt Hans Winter sich albern vor. Er bedankt sich bei seinem Sohn für den Bibliothekswitz, obwohl er ihn nur zur Hälfte verstanden hat, verabschiedet sich hastig und legt auf. Dann denkt Hans Winter weiter über das Verlegen von Büchern nach. Er grübelt und grübelt, aber kommt zu keinem Schluss, den er vorher noch nicht kannte. Dabei ist es eigentlich ganz simpel: Hans Winter ist Verleger, weil er Bücher mag – er mag Worte, er mag schriftbegabte Menschen, er mag die Verlagswesen um sich herum, und ganz besonders mag er Literatur.
Aber was Hans Winter nicht mag, ist der Tod.
Vor allem dann, wenn er sich mitten ins Leben drängt.
Und das hat er getan.
Ausgerechnet heute, an diesem wunderschönen Sommertag, während die blauäugigen Schäfchenwolken am Himmel vorüberziehen und das Baugerüst, das vier Monate lang an der Fassade des Verlags geprangt hat, endlich wieder abgebaut wird.
Hans Winter guckt aus dem Fenster. Dort draußen fliegen ein paar Vögel durch die Luft, sie surfen im Wind, gleiten im Licht, fallen von Wolken und fangen sich in der Strömung der unsichtbaren Thermik wieder auf.
So sieht es jedenfalls aus.
Und Hans Winter mag es, seine Gedanken unformiert in Worte zu verwandeln. Wenn er etwas mehr Buchstabengeschick hätte, würde er wahrscheinlich selbst Bücher schreiben. Er würde Seite um Seite füllen, mit dem Zauber der nächtlichen Schattenspiele auf dem verlassenen Basketballplatz vor seinem geöffneten Wohnzimmerfenster. Und dann würde er schreiben – von dem ersten Tag auf der überschäumenden See, nachdem die Wüste fast alles verschlungen hat, und von dem schimmernden Streifen am Horizont, dort, wo die Ausläufer des Himmels die Erhebungen der Erde berühren.
Hans Winter schüttelt seinen Kopf. Ein paar unbefestigte Gedanken fallen heraus, aber er trauert ihnen nicht nach. Denn er weiß: Man kann nicht alles halten.
Und außerdem will er in diesem Moment sowieso
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