Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
sie traurig ist?
Und einsam?
Natürlich ist sie das.
Ana Davis. Sie hat den Wissenschaftler der Zeit nie wiedergesehen. Sie ist nie mehr hinaus in den Garten gegangen, sie hat nie mehr über seinen Gartenzaun geschaut, sie hat nie wieder aus dem Fenster zurückgesehen.
Aber sie hat ihn vermisst.
An jedem Tag.
Ihr ganzes Leben lang.
Und der Wissenschaftler der Zeit?
Er hat eines Morgens auf seine Uhr gesehen und erschrocken festgestellt, wie spät es geworden ist. Er hat geseufzt und seinen Kopf geschüttelt. Dann wurde er traurig und müde. Und von diesem Tag an ist er nie wieder hinaus in den Garten gegangen, um die Abläufe der Zeit und die Geschehnisse im offenkundigen Zeitrahmen zu betrachten. Er hat nie wieder auf der Wiese gelegen und die Wolken betrachtet, er hat nie wieder dem Vogel und dem Eichhörnchen auf ihrem Baum zugesehen.
Ana Davis und der Wissenschaftler der Zeit. Sie haben die Stadt am Waldrand nie verlassen und sind beide erst viele, viele Jahre später gestorben.
Der Wissenschaftler ist neunundachtzig Jahre alt geworden und saß einsam in einem Lehnstuhl am erloschenen Kamin, als er für immer einschlief. Das letzte Bild, das er vor Augen hatte, war ein kleines Mädchen am Gartenzaun, das lacht und winkt.
Ana Davis ist neunundneunzig Jahre alt geworden und lag einsam auf einer Matratze im Westkorridor des uralten Herrenhauses, um die verblichenen Bilder der Zeit zu betrachten, als ihr Leben leise flüsternd zu Ende ging. Der letzte Augenblick, der sie berührt hat, war ein davonfliegender Kranich am Himmel, dem sie gemeinsam mit einem alten Mann nachsieht.
Ana Davis und der Wissenschaftler der Zeit.
Sie hatten beide ein langes, langes Leben.
Aber nicht nur der Tod trennt unsere Wege.
Manchmal sind es auch einfach die Menschen.
Die zwischen uns stehen.
10
G avin West. Erfolgreicher Investmentbanker, Vater von drei Söhnen, dreimal geschieden, nicht mehr verheiratet, ehemaliger Alkoholiker, seit fünf Jahren trocken und gerade auf dem Weg zur Arbeit, als einer seiner Söhne anruft.
»Dad«, sagt Decan. »Störe ich dich gerade?«
Gavin West seufzt in den Hörer.
Decan schluckt lautlos. Er stört immer, das war noch nie anders. Denn Gavin West hat nicht viel Zeit für seine Kinder. Er hat zwar nichts dagegen, dass es sie gibt, aber es reicht ihm aus, sie zweimal im Jahr, an Weihnachten und an ihrem Geburtstag, zu sehen. Decan weiß, wie sein Vater denkt. Er hat in den zwölf Jahren, in denen es Decan nun schon gibt, kein einziges Mal etwas mit ihm unternommen. Er überweist der Mutter Geld für den Unterhalt. Er bringt zu den beiden genannten Feiertagen ein paar Geschenke vorbei. Er fragt ab und zu nach, ob sich die Noten in der Schule im akzeptablen Bereich befinden. Das ist alles.
Mehr hat Gavin West nicht zu geben.
Mehr Zeitaufwand zahlt sich nicht aus.
Denn Gavin West ist der bedeutendste Mann im Geldbusiness, der größte Hai im Goldfischbecken – die mächtigsten Männer der Zeit wollen sich mit keinem Geringeren als Gavin West treffen, nur um ihm ihr gesamtes Geld anzuvertrauen.
Die beiden anderen Söhne, die Gavin West aus Versehen in die Welt gesetzt hat, sind mittlerweile schon neunzehn und vierundzwanzig Jahre alt. Sie sind von derselben Frau und spielen gerne Fußball, Squash oder Rugby – Gavin West weiß es nicht so genau. Der eine studiert jedenfalls Literatur, und der andere macht eine Ausbildung zum Erzieher. Gavin West findet beides furchtbar. Er hätte es lieber, wenn sein Nachwuchs sich mit Mathematik und Wirtschaftspolitik beschäftigen würde, oder zumindest mit Zahnmedizin oder Neurochirurgie. Irgendetwas Lukratives. Aber da er nicht vorhat, in irgendeiner weiter reichenden Form Verantwortung für seine Kinder zu übernehmen, oder eine engere Bindung zu ihnen aufzubauen, stört es ihn nicht wirklich. Sollen sie doch ihr Leben mit Trivialitäten vergeuden. Im Haifischbassin der fetten Finanzwale ist sowieso kein Platz für kleine Fische. Hier werden die dicken Deals an Land gezogen. Hier geht es mindestens um Millionen, ein Höchstgebot gibt es nicht, es geht immer noch mehr. Reichtum ist keine Tugend und auch kein Geschenk. Es ist ein knallhartes Geschäft, eiskalte Berechnung, ein Pokermienen-Spiel, gespickt mit sorgfältig getarnten Tretminen. Aber Gavin West ist so gut in seinem Beruf, dass er keine Angst vor Fehlern hat.
Er macht einfach keine.
Das ist eine Tatsache.
So funktioniert Macht.
Gavin West fährt gerne jenseits aller Regeln
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