Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
setzen sich auf. Der Wissenschaftler freut sich, seine Frau zu sehen, er sagt einen liebevollen Gruß und lächelt ihr zu, das Mädchen winkt und fragt die Frau, ob sie sich dazulegen möchte, unter die Zauberwolken und die Unendlichkeit der unsichtbaren Sterne, bis der Sturm kommt, oder der Regen, oder beides zugleich.
Einen wunderbaren Moment lang möchte die Frau des Wissenschaftlers ihre Handtasche in das kühle Gras fallen lassen, genau wie all die Lasten, die sie schon ein Leben lang mit sich herumträgt, weil sie niemals gelernt hat loszulassen.
Freizulassen.
Gehen zu lassen.
Einen Moment lang möchte sie leben, intensiv und uneingeschränkt, so wie der Wissenschaftler und das Mädchen auf der Decke. Aber dann erinnert sie sich plötzlich wieder daran, wer sie ist, und wer sie niemals sein wird.
Also schüttelt sie ihren Kopf.
Und dann sagt sie, in ihrem plötzlich aufflammenden Zorn: »Nein, Ana! Ich möchte nicht unter dem hässlichen grauen Himmel liegen! Ich möchte nicht auf die Sturmwolken warten! Und ich möchte auch nicht, dass du jemals wieder in unseren Garten kommst!«
Kaum hat die Frau des Wissenschaftlers dies ausgesprochen, da wird es auf einmal kalt in dem großen Garten. Die Regenwolken werden dichter und dichter. Ein großes graues Loch breitet sich über der Zeit aus.
Ana steht auf.
Sie sieht den Wissenschaftler an.
Auch er steht auf. Und in dem erblassten Licht, das nun den Garten umrandet, sieht es mit einem Mal aus, als würde Ana zwischen dem Wissenschaftler und seiner Frau stehen. Erschrocken tritt Ana einen Schritt zurück. Dabei weiß sie ganz genau, dass es unendlich viele Wege und Ebenen auf dieser riesengroßen Welt gibt. Kein Mensch muss mit einem anderen um die Wette laufen, kein Mensch muss mit einem anderen um ein Ziel kämpfen, um einen Augenblick, um die Zeit.
Doch Ana weiß auch, dass sie nicht bleiben kann. Nicht hier auf diesem gläsernen Untergrund. Denn sie sieht hinab, bis in die tiefsten Windungen dieser Angst, vor der sie steht, sie erkennt den angegriffenen Stolz, die flüsternde Unsicherheit und die Hilflosigkeit einer Frau, die in ihren Verhaltensmustern gefangen ist und nicht davonkommen kann.
Und sie sieht.
In diesem fensterlosen Rahmen.
Ist kein Raum für ihre Bilder.
Ana Davis. Sie weiß, sie muss gehen. Sonst wird sie etwas zerstören, das sie nicht zerstören will. Außerdem ist der Wissenschaftler der Zeit ihr bester Freund. Und was wünschen wir uns mehr, als dass die Menschen, die uns am meisten bedeuten, glücklich sind.
Ana hat verstanden, dass der Wissenschaftler der Zeit nicht glücklich sein kann, solange seine Frau so unglücklich ist. Denn er liebt sie. Mit all ihren Fehlern. Und er ist nachsichtig mit ihrer auflodernden Wut, weil er weiß, dass sie nie gelernt hat, ihren kühlen Verstand mit ihrem warmen Herzen zu verknüpfen.
Und so sehen sich Ana und der Wissenschaftler ein letztes Mal in die Augen. Sie sehen viel. In diesem kurzen Augenblick.
Und sie sehen weit, weit in die Ferne.
Dann dreht Ana sich um.
Und läuft davon.
Ana Davis. Fünfzehn Jahre alt. Wenn sie nicht in der Schule ist oder für ihre Prüfungen lernt, spielt sie Klavier oder spaziert alleine durch die großen Zimmer und langen Gänge des verlassenen Herrenhauses. An die weißen Wände im Westkorridor malt sie Bilder der Vergangenheit und Bilder der Nacht.
Sie zeichnet Abhandlungen der Zeit.
Wahrscheinlichkeiten.
Möglichkeiten.
Geheimnisse.
Sie zeichnet jeden Augenblick, den sie gesehen hat, jede Farbe, die sie gespürt hat, jedes Geräusch, das sie vernommen hat. Sie zeichnet einen blühenden Garten: Er reicht von den verschneiten Winternächten bis hin zum letzten Frühlingstag, er erzählt vom glühenden Sommer und dem raschelnden Laub im Herbst.
Ana Davis. Das unscheinbarste Mädchen in der Stadt am Waldrand, das sanftmütigste Mädchen auf der ganzen Welt. Sie lebt zurückgezogen in den Schatten der Wirklichkeit, sie tastet sich blind durch den verschwommenen Schleier zwischen Phantasie und Irrsinn. Sie betrachtet die bemalten Wände und weiß, dahinter wartet ein wunderschöner Garten. Aber sie wird nie wieder hinausgehen, um ihn zu betreten.
Denn diese Zeit.
Ist längst vorbei.
Ausgelaufene Minuten kann man nie wieder füllen, sie werden ersetzt durch Seifenblasen. Und so wandert Ana alleine durch das große leere Herrenhaus; sie bewegt sich auf Zehenspitzen, sie schlüpft lautlos durch die Zeit, sie entkommt jeder Vermessung der Welt.
Ob
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