Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
der Geschwindigkeitsbegrenzungen in seinem Aston Martin durch die Stadt. Er mag die bequemen Ledersitze, die blitzblanken Felgen, das funkelnde Armaturenbrett – und am liebsten mag er die laute Musik aus den hämmernden Boxen. Aber er kann keine Musik hören, wenn er mit seinem Sohn telefonieren muss. Außerdem ruft Decan sowieso viel zu oft an. Zwei-, dreimal im Monat klingelt sein Handy mit einem vorwarnenden Gedudel, das ihm verkündet, dass Decan schon wieder in der Leitung hängt. Gavin West versteht nicht, warum dieser Sohn es einfach nicht lassen kann, ihn zu belästigen. Denn es interessiert Gavin West nun mal nicht, wohin die letzte Schulexkursion geführt hat, was für Songs Decan gerade hört, wie sein bester Freund heißt, was seine Lieblingsfarbe ist, wo er am liebsten abhängt, und am wenigsten von allen Dingen interessiert es ihn, wie Decan sich gerade fühlt. Worte wie Einsamkeit und Sehnsucht existieren in Gavin Wests Wortschatz nicht. Es macht ihn krank, von depressiven oder melancholischen Menschen umgeben zu sein. Seiner Meinung nach gehören alle kranken Menschen ins Bett oder in die Psychiatrie. Und was auch immer mit Decan nicht stimmt, Gavin West kann es einfach nicht ertragen – dieses flüsternde Suchen nach Antworten, dieses ewige Fragen nach dem großen Warum. Geld ist sowieso die einzige Antwort, die Gavin West kennt und anzunehmen bereit ist. Aber damit kann sein Sohn natürlich nichts anfangen. Decan möchte lieber wissen, warum die Erde immer um ihre eigene Achse rotieren muss und nicht einfach mal stillstehen kann, denn solange die anderen Planeten nichts dagegen haben, müsste das doch okay sein.
Gavin West hasst solche Konversationen.
Am liebsten würde er Decan anbrüllen und rufen: »Sohn! Werd endlich erwachsen! Nimm dein Leben selbst in die Hand und ruf mich nie wieder an!«
Aber Gavin West bekommt Kopfschmerzen vom Brüllen. Er hat schon in seinem Job ständig nervenaufreibende Gespräche und Verhandlungen zu führen, da möchte er sich nicht auch noch in seiner Freizeit damit herumschlagen. Er möchte ungestört seine Musik hören. Er möchte, dass dieses Kind ihn endlich in Ruhe lässt.
Ja, Gavin West ist genervt von diesem Sohn. Und noch viel mehr ist er genervt von der Mutter, die es nicht schafft, ihren Sohn zu einem vernünftigen Menschen zu erziehen, der nicht abhängig ist von der Aufmerksamkeit seines Vaters oder einem zusprechenden Wort. Aber Decans Mutter hat noch nie viel Verstand gehabt, so war es schon gewesen, als Gavin West sie kennengelernt hat, und so wird es wohl auch immer sein. Man sieht ihr den Hang zur Oberflächlichkeit geradezu an: Sie hat lange künstliche Haare, platinblond gefärbt, große künstliche Brüste, Körbchengröße Doppel D, und künstliche Fingernägel, neonpink lackiert. Außerdem hat sie einen unumstrittenen Hang zu Wodka, Sex on the Beach und ihrem hässlichen Pudel mit dem fürchterlichen Namen Lucky. Sie hat ständig einen Kaugummi oder eine Zigarette im Mund. Sie spricht immer zwei Tonlagen zu laut und benutzt dabei auch noch einen entsetzlich billigen Kneipen-Slang. Gavin West wird schon schlecht, wenn er nur daran denken muss. Er hat »diese Person«, wie er sie mittlerweile abfällig nennt, im volltrunkenen Zustand geheiratet und es nur einen Tag später schon wieder bereut. Zwei Tage darauf hat er die Scheidung eingereicht, aber neun Monate danach ist Decan auf die Welt gekommen. Das war der Augenblick, in dem Gavin West sich geschworen hat, sein Alkoholproblem endlich in den Griff zu bekommen und nie wieder eine Frau zu heiraten.
Daran hat er sich gehalten.
Seine Alkoholausrutscher liegen mittlerweile hinter ihm, und Sex hat er nur noch mit Prostituierten oder Wochenend-Affären. Diese Art von Leben gefällt ihm. Er mag käufliche Augenblicke, obwohl er käufliche Menschen eigentlich verachtet. Vielleicht, weil er ganz genau weiß, dass auch er käuflich ist.
Genau wie alle anderen.
Gavin West überlegt einen Moment, ob er einfach wieder auflegen soll. Aber das ist nicht sein Stil. Er will keinesfalls vor einem zwölfjährigen Kind kapitulieren. Außerdem fragt er sich manchmal, wie Decan überhaupt so weit kommen konnte, mit dieser Mutter und einem derart verweichlichten Herzen. Aber Decan selbst hat kein Problem mit seiner Mutter. Er schämt sich zwar manchmal für ihre aufdringliche Art, sich zu kleiden, und die Schimpfworte, die sie in den Mund nimmt, wenn sie zu viel getrunken hat, mag er auch nicht; aber
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