Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Kursschwankungen der letzten Wochen. Ich habe Nachrichten geguckt.«
»So, so«, hat Eriks Vater gesagt. »Du lernst jetzt also auch die Aktienkurse auswendig.«
»Und woher willst du wissen, dass ihr Mann ein Scheidungsanwalt ist?«, hat Eriks Mutter währenddessen weiter gefragt.
»Auf dem Tisch standen Pralinen, und daneben lag ein Brief … für meine wundervolle Frau, danke für die herrliche Zusammenarbeit … der Briefkopf gehörte zu einem gewissen Richard Seling, Scheidungsanwalt. Und jetzt erklärt mir doch mal, warum sich ein Scheidungsanwalt bei einer Ehetherapeutin für die Zusammenarbeit bedankt!?«
Das war der Moment, in dem Erik Stevensons Eltern beschlossen haben, nur noch so wenig wie möglich mit Erik zu reden, weil sie sich nicht ganz sicher waren, ob sie mit ihrem Sohn umgehen konnten, oder eher doch nicht. Und so haben die beiden sich eine neue Ehetherapeutin gesucht, und ein Kindermädchen eingestellt, das Tag und Nacht für Erik Zeit hat und dafür sorgt, dass er nicht aus Versehen eine Biowaffe oder die Formel zur Unsterblichkeit entdeckt.
Erik Stevenson. Der intelligenteste Mensch in der Stadt am Waldrand. Er ist noch nicht einmal sieben Jahre alt, und sein Gehirn ist schon jetzt so groß, dass er es alleine kaum tragen kann.
An diesem Abend sitzt er mit seinem Kindermädchen auf dem Dachboden und schraubt an einer Festplatte herum. Das Licht dort oben ist dämmrig, und die Luft riecht nach ausgerupften Vogelfedern und altem Holz, aber Erik liebt den Dachboden, denn vom Fenster aus kann man bis hinüber zum Waldrand sehen. Und wenn es einen Ort gibt, den Erik noch mehr mag als den staubigen Dachboden, dann ist das die geheime Zauberlichtung mitten im Wald. Denn dort, zwischen den drei uralten, mächtigen Bäumen, fühlt Erik sich geborgen; dort flüchtet er immer hin, wenn er traurig ist, weil keiner ihn verstehen kann. Aber seit Erik das Kindermädchen hat, ist er nicht mehr so oft unglücklich. Am Anfang fand er die Vorstellung zwar schrecklich, dass ausgerechnet er jemanden haben sollte, der auf ihn aufpasst, aber dann hat er sehr schnell festgestellt, dass sein Kindermädchen gar keine Anstalten macht, ihn wie ein kleines Kind zu behandeln, sondern einfach nur für ihn da ist, und ihm zuhört, ganz egal wie schnell und mit was für außergewöhnlichen Worten er redet. Und als das Kindermädchen ihm schließlich auch noch zugeflüstert hat, dass es auch viel zu schnell viel zu viele Worte und Zahlen auswendig konnte, da hat Erik sich gefreut wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und deshalb hat es nicht lange gedauert, bis Erik sein Kindermädchen so fest in sein Herz geschlossen hat, dass die beiden einen geheimen Pakt geschlossen haben – ein Versprechen der Freundschaft, und den Schwur, Verbündete der Zeit zu sein.
Von hier an.
Nie wieder alleine.
Erik Stevenson und sein Kindermädchen. Sie sitzen dicht beieinander auf dem Dachboden und teilen sich ihre Gedanken, während sie sich so beiläufig mit der Festplatte beschäftigen, als würde es sich um ein Kinderpuzzle mit vier buntbedruckten Teilen handeln. Das schummrige Licht auf dem Dachboden hüllt sie in einen fremden Raum, doch weil sie sich dort auskennen, und weil sie gemeinsam dort sind, haben weder Erik Stevenson noch sein Kindermädchen Angst.
Draußen wird es allmählich dunkel, und Erik wird langsam müde. Er streicht sich mit seinen kleinen Händen über das Gesicht und fängt an zu gähnen.
»Soll ich dich ins Bett bringen?«, fragt das Kindermädchen mit ihrer sanften Stimme.
»Erzählst du mir vorher eine Geschichte?«, fragt Erik.
»Natürlich«, sagt das Kindermädchen. »Ich erzähle dir doch jeden Abend eine Geschichte. Welche magst du denn heute hören?«
»Mein Lieblingsmärchen!«, antwortet Erik sofort. »Du weißt schon – das Märchen, das du mir immer erzählst, wenn ich mich traurig und einsam fühle.«
Das Kindermädchen nimmt Erik die Festplatte aus den Händen und hebt ihn hoch auf ihren Schoß.
»Bist du denn heute traurig und einsam?«, fragt sie und streicht ihm sanft über sein dichtes Haar.
Erik schüttelt lächelnd den Kopf.
»Nein«, sagt er und grinst etwas schief. »Aber ich höre das Märchen so gerne!«
Da lächelt das Kindermädchen, auch sie mag das Märchen gerne. Sie hat es extra für Erik erfunden, denn sie weiß, dass er es nicht leicht hat, mit seinem viel zu lauten Kopf; und sie findet es schön, mit Erik in seinem Bett zu liegen und ihm von der Welt hinter der
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