Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Probleme selbst zu lösen, und deshalb kann er einfach nicht begreifen, warum so viele Menschen ständig so aufgeregt durch so viele Gegenden rennen müssen, nur um andere Menschen aufzutreiben, die ihnen rein gar nicht helfen können, sondern ebenfalls anfangen, aufgeregt herumzurennen, so dass das ursprüngliche Problem immer weiter übersprungen und größer und größer und unlösbarer wird.
Erik Stevenson ist sich aufgrund seiner gründlichen Beobachtungen mittlerweile sicher, dass es eine unendlich große Zahl von Menschen gibt, die es nur mit Hilfe eines glücklichen Zusammenspiels mehrerer unerklärlicher Faktoren geschafft haben, erwachsen zu werden.
Ja. Da ist er sich absolut.
Und vollkommen.
Sicher.
Erik Stevenson. Der am schnellsten denkende Mensch in der Stadt am Waldrand. Er ist sehr oft sehr einsam und sehr traurig. Denn er hat keine Ahnung, was man mit einem Playmobil-Zoo anfangen könnte, er weiß nicht, wozu man Plastikautos oder Gummischnippsbänder braucht, und er versteht auch nicht, was an einem so simplen Spiel wie Memory spannend sein soll.
Die anderen Kinder mögen Erik eigentlich sehr gerne, denn er ist nett und hilfsbereit, aber gleichzeitig haben sie auch Angst vor ihm, denn er weiß mehr als alle Erzieher und Erzieherinnen zusammen. Und neulich, als am Erklärtag ein Polizist zu Besuch im Kindergarten war, da hat Erik Stevenson hundertelf Fragen gestellt, von denen der Polizist gerade mal zweieinhalb beantworten konnte. Das fanden natürlich alle sehr unheimlich. Weil Polizisten gefälligst die klügsten Menschen auf der Welt sein sollen, gleich nach Politikern und Piloten und PISA-Studien-Mitarbeitern.
Das ist also das eine Problem. Das andere ist natürlich genau dasselbe. Denn Erik Stevenson kann mit Hilfe von ein bisschen Draht und seiner Sammlung von Dietrichen fast jede Tür aufbrechen, und er weiß sogar, wie man im Bürgeramt anruft, um einen Termin mit dem Vorsitzenden des Umweltbelastungsausschusses zu vereinbaren. Das verstehen die anderen Kinder zwar nicht, aber sie finden trotzdem, dass es ziemlich cool klingt; und so gesehen hat Erik Stevenson immerhin keine richtigen Feinde, aber richtige Freunde hat er auch nicht.
Eriks Eltern sind beide Psychologen und haben sich an Eriks viertem Geburtstag bei einer Ehetherapie angemeldet, um dem durch seine überschüssige Intelligenz verursachten Stress entsprechend entgegenhandeln zu können.
Einmal ist Erik mit zu dieser Therapie gegangen. Da war er schon fast viereinhalb Jahre alt und hatte keine Lust mehr, das Lexikon für Naturwissenschaften auswendig zu lernen, und so hat er seinen Eltern verkündet, dass er es verantwortungslos fände, wenn er die beiden zweimal die Woche zu einer tief in die Seele eingreifenden Therapiestunde gehen lasse, ohne sich vorher mit allen erdenklichen Auswirkungen auseinanderzusetzen. Eriks Eltern haben beide geseufzt, aber sie haben nicht versucht zu diskutieren (damit hatten sie schon an Eriks drittem Geburtstag ein für alle Mal abgeschlossen, als er eine Rede über das Für und Wider von E10-Kraftstoff gehalten hatte und diese auch noch ganz beiläufig mit einer ellenlangen Ansammlung von Formeln und Diagrammen begründet hatte). So waren die drei also gemeinsam bei der Ehetherapie aufgekreuzt und hatten ziemlich unbeholfen in dem sterilen Raum gesessen, bis Erik schließlich nach zwanzig Minuten aufgestanden war, der Therapeutin kopfschüttelnd einen sehr entsetzten Blick zugeworfen hatte und an seine Eltern gewandt meinte: »Kommt, wir gehen! Sonst seid ihr beiden in spätestens fünf Monaten geschieden.«
Eriks Eltern hatten sich bei der Therapeutin entschuldigt und waren ihm dann hinaus auf die sonnenbeschienene Straße gefolgt.
»Was sollte das denn!?«, hat Eriks Vater sofort ungehalten gefragt und beide Augenbrauen zusammengezogen. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«
»Verdammt noch mal, Erik!«, hat Eriks Mutter wütend hinzugefügt. »Wir gehen schon seit Monaten zu dieser Therapie!«
»Allein daran solltet ihr sehen, dass sie nichts bringt«, hat Erik daraufhin schulterzuckend erwidert. »Also werdet endlich erwachsen oder sucht euch eine Ehetherapeutin, die nicht mit einem Scheidungsanwalt verheiratet ist und Aktien des größten Pharmakonzerns aller Zeiten besitzt!«
»Woher willst du das denn wissen!?«, hat Eriks Vater empört gefragt.
»Auf ihrem Tisch lag ein Zettel mit folgenden Zahlen: 1.80, 1.57, 2.20«, hat Erik seelenruhig erwidert. »Das sind die
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