Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Welt, in der Welt, zwischen den Welten zu erzählen. Also knipst das Kindermädchen die kleine Glühbirne auf dem Dachboden aus und trägt Erik hinunter in die Wohnung. Dort putzen die beiden sich zusammen die Zähne, dann schlüpft Erik in seinen Pyjama, sagt seinen Eltern, die wie jeden Abend in ihre Psychologiezeitschriften vertieft sind, gute Nacht, und kurz darauf hüpft er auch schon in sein Bett und rückt zur Seite, damit sein Kindermädchen sich zu ihm legen kann, um die Dämonen der einsamen Nächte zu vertreiben, bevor sie überhaupt auftauchen können.
Erik Stevenson, sechs Jahre alt, dunkle Haare, dunkle Augen und ein glasklarer, heller Verstand. Es ist das letzte Mal, dass sein Kindermädchen ihn ins Bett bringen wird, es ist das letzte Märchen, das er hören wird.
Denn Erik Stevenson wird nie wieder aufwachen.
Er wird an diesem Abend einschlafen und die Grenzen der Nacht nicht mehr verlassen. Irgendwo dort, zwischen seinen friedlichen Träumen und dem leisen Pochen seines kleinen Herzens, lauert der lautlose Tod, und zieht ihn mit sich, an diesen einen undurchsichtigen Ort.
Von dem noch nie ein Mensch.
Zurückgekehrt ist.
Um zu berichten.
Erik Stevenson. Das Wunderkind mit den ungezählten Talenten und dem ungezähmten Wissen. Ein winziger Tumor hatte sich zwischen seinen verschlungenen Gehirngängen versteckt. So winzig und klein, dass Erik nicht einmal aufgewacht ist, als er schließlich explodierte. Da war nur ein wunderbar funkelndes Aufleuchten in Eriks Gedanken, ein Blitz, wie bei einem plötzlich auftretenden Gewitter, und ein leises Krachen, das fast schon klang wie Musik.
Und dann, für einen herrlichen Augenblick, war es unglaublich hell, und Erik konnte durch die Nacht hindurch bis zu der Zauberlichtung mit den drei geheimnisvollen Bäumen sehen.
Erik hat gelächelt vor Glück.
Denn das Licht war weiß und durchdringend.
Es war überall. Und es wurde immer heller.
Und heller. Und heller.
Und dann. Ja, dann.
War es auf einmal weg.
17
E in kleiner Holztisch in einem großen Café. Ein nacktes Teelicht steht genau in der Mitte, daneben ein kleiner Blumentopf mit einem einsamen Vergissmeinnicht. Zwei leere Cappuccino-Tassen, eine zerknüllte Serviette und ein achtlos beiseitegelegter Teelöffel teilen den Tisch kaum merklich in zwei Hälften. Auf der einen Seite sitzt July, auf der anderen Rain. July ist neunundzwanzig Jahre alt, freie Künstlerin und unfreiwillige Tochter des Verteidigungsministers. Sie spricht fünf verschiedene Sprachen, alle fließend. Sie hat schon die halbe Welt umreist. Und alles, was sie gesehen hat, alles, was sie erkannt oder begriffen hat, versteckt sich irgendwo dort, in ihren abstrakt gehaltenen Bildern und Kunstwerken.
Rain ist ebenfalls neunundzwanzig Jahre alt, aber er war noch nie außerhalb der Stadt am Waldrand. Dafür hat er July kennengelernt, genau an dem Tag, an dem sie von ihrer langen Reise zurückgekommen ist. Sie sind zusammengestoßen, damals, an einem verregneten Herbstabend; und weil sie sich verliebt haben, von dieser ersten Sekunde bis hinein in die weiterführende Zeit, sind sie kurz darauf in eine gemeinsame Wohnung gezogen.
Tagsüber hat Rain immer frei. Aber nachts, wenn die Wesen der dunklen Stunden durch die Straßen streifen, auf der Flucht vor dem Schlaf und auf der Suche nach einem guten Drink oder der ewigen Liebe, dann ist Rain Barmann im angesagtesten Club der Stadt am Waldrand – dem Off Road.
July und Rain wohnen mit einem Zwerghamster und zwei Goldfischen in einer Wohnung direkt im Zentrum. Es gibt keinen Fahrstuhl, und sie müssen jeden Tag fünf Stockwerke hochsteigen. Aber das stört weder July noch Rain, denn sie laufen meistens Hand in Hand.
Ganz beiläufig.
Nebeneinander herlaufend.
Berühren sie sich laufend.
Sie verstehen sich ohne viele Worte; sie streiten, ohne laut zu werden, sie engen sich nicht ein, sie grenzen sich nicht aus, sie halten zusammen, was immer sie zusammenhält.
Aber an diesem Tag stimmt irgendetwas nicht. Rain streckt eine Hand aus, um Julys Arm zu berühren. Aber genau in dem Moment, in dem er sie fast erreicht hat, zieht sie ihre Hand weg und lässt ihn alleine zurück. Rain stutzt verwirrt. Er ist sich keines Fehlers bewusst. Sie hatten eine schöne Nacht zusammen, denn er hatte frei, und so waren sie gemeinsam eingeschlafen, gemeinsam aufgewacht und gemeinsam aufgestanden. Es ist ein wunderschöner Start gewesen, in einen sonnenbeschienenen Tag. Der Regen der letzten
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