Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
schwer.
Aber es ist Zeit.
Ihr Geheimnis zu offenbaren.
Rachel Hart blinzelt ein letztes Mal.
Dann holt sie tief Luft.
Und schluckt und schluckt.
Rachel Hart. Das unerkannte Mädchen in dem grausamsten Geschehen, das die Stadt am Waldrand je umfangen hat. Das Mädchen mit den langen Haaren und dem unbetrübten Lächeln im Gesicht. Das Mädchen, von dem alle dachten, sie würden es kennen.
Das eine Mädchen.
In dieser einen Stadt.
An diesem weiten Waldrand.
Rachel Hart. Sie verlässt das Schulgebäude und gibt zwei Straßen weiter einen Brief bei der Post ab. Dann macht sie sich auf den Weg in Richtung Schlosspark. Es ist nicht weit, aber ihre Schritte werden immer langsamer, mit der Zeit. Und ihr Lächeln. Wird immer müder.
Mit genau derselben.
Zeit.
Rachel Hart. Das Mädchen mit dem größten Geheimnis in der Stadt am Waldrand. Sie erreicht schweigend das riesige Schloss mit dem angrenzenden Park.
Eine Stunde später.
Finden zwei Kinder ihre Leiche.
Auf der Wiese ganz hinten am Waldrand.
16
E rik Stevenson. Er ist sechs Jahre alt und klüger als alle Menschen, die er je getroffen hat. Das liegt nicht daran, dass Erik erst sehr wenigen Menschen begegnet ist, oder ausschließlich von dummen Menschen umgeben ist.
Nein.
Erik Stevenson ist hoch begabt.
Den größten Teil seiner Zeit verbringt Erik damit, sich zu wünschen, etwas weniger schlau und dafür etwas mehr dumm zu sein. Aber wie das so ist, mit Wünschen, die man ins Nichts hinausschickt – es kommt meistens nichts zurück, und so ist Erik Stevenson weiterhin viel zu intelligent, um mit Kindern in seinem Alter spielen zu können, ohne dabei alle fünf Minuten in eine unbestimmte und stimmungslose Traurigkeit zu verfallen oder von einem Tobsuchtsanfall heimgesucht zu werden. Dabei ist Erik eigentlich ein fröhliches und gelassenes Kind, was angesichts der Tatsache, dass Erik pausenlos am Denken ist, ein wichtiger Bestandteil seiner Überlebensstrategie ist; und wütend ist Erik normalerweise auch nicht gerne, aber manchmal kann er einfach nicht begreifen, was so schwer daran sein kann, ein Buch zu lesen, und es anschließend auswendig aufzusagen. Erik findet es unglaublich, dass es Menschen gibt, die nicht wissen, wie man einen PC konfiguriert, oder Probleme beim Reparieren ihres Auspuffs haben. Denn wenn Erik etwas lernen möchte, dann geht er einfach los und guckt zu, wie ausgewachsene Menschen etwas machen, und anschließend kann er es in der Regel auch. Wenn das nicht der Fall ist, dann liegt das meistens nicht an Erik, sondern an dem Erwachsenen, dem er bei der Arbeit zugeguckt hat. Wie Erik feststellen musste, kommt es nämlich vor, dass Menschen, von mitunter sehr geringem Verstand, es irgendwie schaffen, einen Job als Handwerker oder Telefon-Anschluss-Freischalter zu bekommen. Und von solchen Menschen kann Erik natürlich nicht lernen, wie man Laminat verlegt oder DSL-Netzwerke verknüpft. Aber anhand einiger logischer Ableitungen lernt Erik mittlerweile auch ziemlich schnell aus Fehlern, die andere begehen, bevor er sie selbst begehen muss, und so bringen ihm sogar die falschbegabten Menschen einige nützliche Dinge bei. Wie zum Beispiel Blätterteig machen (das kann Eriks Mutter nicht einmal mit Rezept), vorwärts einparken (das können weder Eriks Mutter noch Eriks Tante), rückwärts einparken (das können weder Eriks Mutter noch Eriks Tante noch Eriks Oma noch die Nachbarin), den Kühlschrank reparieren (das können weder Eriks Papa noch Eriks Onkel noch Eriks Opa) und aus einem Diaprojektor einen Beamer basteln (das konnte der Nachbar von Erik nur halb, dann ist er an einem falschen Kabel gescheitert).
Ja. So ist das mit Erik Stevenson. Er kann viele Dinge, die er gar nicht unbedingt können will oder muss. Und er kann viele Dinge nicht, weil sie so simpel sind, dass er nicht weiß, wozu er sich damit beschäftigen sollte. Manchmal fragt sich Erik ernsthaft, wie all die weniger begabten Menschen überhaupt durch ihr Leben kommen. Aber er traut sich nicht, danach zu fragen, denn diese anderen Menschen erscheinen ihm hin und wieder so hilflos und unsicher, dass er Angst hat, ein Gespräch mit ihnen anzufangen. Außerdem hat er keine Ahnung, wie langsam und mit welchen Worten er sprechen muss, um nicht überhört oder fehlgehört zu werden. Also sitzt Erik oft alleine in der Gegend herum und beobachtet das Treiben der anderen Menschen. Das wirft natürlich weitere Fragen auf. Zum Beispiel ist Erik es gewohnt, sämtliche
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