Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Wochen war endlich vorüber, und keine einzige Wolke hing am Himmel.
Aber nun sitzt Rain alleine da. Und July blickt an ihm vorbei auf einen Punkt an der Wand, den er nicht sehen kann. Er dreht seinen Kopf, versucht herauszufinden, woran sie sich klammert, woran sie sich hält. Aber er kann nichts erkennen. Die Wand ist hellgrün, wie alle Wände in dem kleinen Café. Dort hängen keine Bilder, keine Plakate und auch keine Tafeln – es ist einfach nur eine leere grüne Wand. Aber July sieht diese Wand an, als sei die Unendlichkeit der Zeitmuster und der Knotenpunkt der verstrickten Welt dort eingebrannt.
»July?«, fragt Rain nach einer Weile.
Sie antwortet ihm nicht.
»July?«, wiederholt Rain unsicher.
Aber er kann seine eigene Stimme nicht mehr hören.
Sie ist davongehuscht. Kaum merklich.
So leise. So leise.
So leise.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagt auf einmal eine zaghafte Stimme ganz dicht an Rains Ohr. Rain blickt sich verwirrt um, er hat diese Stimme schon einmal gehört, aber er weiß nicht, wo und in welchem Zusammenhang.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagt die Stimme erneut, und eine vorsichtig tastende Hand berührt seine Schulter.
Da wacht Rain auf und blinzelt in das grelle Licht.
Eigentlich hat er gar nicht geschlafen.
Seine Gedanken sind einfach nur fort gewesen.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagt die Stimme ein drittes Mal, und dieses Mal hat sie ausreichend Mut, um endlich weiterzusprechen: »Sie können doch nicht für immer hier sitzen. Wollen Sie nicht lieber nach Hause gehen? Oder sollen wir jemanden anrufen, der Sie abholt? Einen Freund vielleicht, oder haben Sie Familie?«
Rain blickt mit leeren Augen auf. Vor ihm steht eine junge Frau im weißen Kittel, in ihren Händen hält sie ein Klemmbrett, und um ihren Hals hängt ein Stethoskop.
Da fällt es ihm wieder ein.
July ist tot.
Seit über zehn Stunden liegt sie nun schon regungslos in dem Keller dieser riesigen Klinik, aber Rain sitzt noch immer in dem Wartezimmer, in dem man ihm mitgeteilt hat, dass sie soeben an einem Fehlschlag ihres Herzens gestorben sei.
Das war der Ausschlag für ihn.
Sich geschlagen zu geben.
Vor der gnadenlosen Zeit.
Rain blinzelt einmal. Dann noch einmal. Aber die wirkliche Welt verliert ständig ihre Konturen und versinkt in einem Nebel aus schemenhaften Erinnerungen, die plötzlich glasklar und gestochen die Realität überlagern. In Rains Kopf ist der letzte Moment gefangen, vor wenigen Stunden, in dem Stammcafé um die Ecke, wo Liana Lake den besten Kaffee der Stadt am Waldrand serviert. July und er haben beide einen Haselnuss-Cappuccino getrunken, und July hat von einem gebrochenen roten Lichtstreifen auf schwarz-weißem Hintergrund erzählt, mit Ölfarben gemalt und mit Papierfetzen beklebt. Sie war ganz begeistert von dieser neuen Idee gewesen, sie wollte gleich ins Atelier gehen und sich ans Werk machen. Aber dann hat sie plötzlich ihren Löffel auf den Tisch fallen gelassen und ist ohnmächtig zusammengesackt.
Einfach so.
Ohne Vorwarnung.
»Entschuldigen Sie«, sagt die Stimme aus der Ferne erneut, diesmal noch behutsamer als bei den vorangegangenen Malen.
Aber Rain reagiert nicht.
Die Zeit verläuft.
Und verläuft sich.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagt die Stimme zum fünften Mal. Und da sieht Rain, dass wieder die Ärztin in dem weißen Kittel mit dem Klemmbrett und dem Stethoskop vor ihm steht. Auf ihrem Namensschild steht Lisa Haze.
Er starrt sie an.
Irgendwann wird sie unsichtbar.
»Entschuldigen Sie bitte«, fängt die Stimme schließlich zum sechsten Mal an, nun klingt sie müde und erschöpft. Denn sie versucht es jede Stunde erneut. Und es sind viele Stunden vergangen, seit July gestorben ist.
Aber auch diesmal.
Reagiert Rain nicht.
Ein neuer Abend bricht an. Eigentlich müsste Rain zur Arbeit in den lauten Club gehen, aber das ist nicht wichtig.
Nicht heute. In dieser Nacht.
Er möchte lieber nach Hause gehen.
Er weiß nur nicht, ob er das kann.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagt die Stimme ein letztes Mal, und sie ist immer noch nicht ungeduldig, obwohl sie nun schon unzählige Male hier war.
Da steht Rain auf und greift nach seiner Jacke.
Dann greift er nach der Jacke von July.
»Entschuldigung«, sagt er zu der Ärztin.
Dann dreht er sich um.
Und geht davon.
18
E r mag das dunkle Blau der Adern auf ihrer hellen, unantastbaren Haut. Es erinnert ihn an die weißen Schaumkronen auf einem aufgewühlten Meer, kurz vor dem Sonnenaufgang, wenn das
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