Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
und lieber alleine und zurückgezogen lebt, in diesem einsamen Herrenhaus, in das sie noch nie jemanden eingeladen hat. Und solange Ana Davis still vor sich hin gelächelt hatte und ein glücklicher Mensch zu sein schien, war es für Rachel genug gewesen, einfach nur im selben Klassenzimmer mit Ana zu sitzen und ab und zu ihren Anspitzer auszuborgen. Aber seitdem Ana aufgehört hat zu lächeln, und von Monat zu Monat blasser und trauriger wird, leidet Rachel darunter, dass sie es nicht schafft, zu Ana durchzudringen, obwohl sie sich im Grunde genommen genauso von allen zurückzieht. Trotzdem versucht Rachel Hart, jeden Tag aufs Neue, Ana wieder zum Lächeln zu bringen. Sie bastelt kleine Geschenke für sie und teilt ihre Schulbrote mit ihr. Ana freut sich jedes Mal darüber und nickt zum Dank – aber sie möchte nicht sprechen. Es ist, als hätte sie Angst vor einer Freundschaft, als hätte jemand den Glauben an die Menschlichkeit in ihr zerstört.
Rachel kann das gut verstehen, auch sie würde gerne für immer schweigen. Aber sie kann nicht. Eines Tages wird die Zeit sie überholen; und sie wird es nicht schaffen, aufzuholen und alle Fehler der Vergangenheit zurück in die beeinflussbare Gegenwart zu bringen.
Der Frühling geht vorbei. So schnell, als wäre er auf der Flucht, oder als hätte er gar nicht erst begonnen. Und da versteht Rachel etwas, über das sie vorher nie nachgedacht hat: Verhältnismäßigkeit verhält sich mäßig gegenüber der haltlosen Verirrung eines ungehaltenen Menschen.
Sie betrachtet ihr Gesicht im Spiegel.
Sie erkennt die letzten Tage.
Sie sieht die Regeln der Zeit.
Und sie versteht, was bleibt, und was verschwindet, und was kommen muss, damit es weitergehen kann. Für irgendwen. Oder für alle anderen. Unabhängig von ihr. Denn dieses kleine Puzzleteil ist längst durch den Rahmen gefallen.
Und so kommt der Sommer. Der lange, heiße Sommer, in dem Rachel Hart ihre letzte Prüfung schreibt. Sie sitzt neben Ana Davis im Klassenzimmer und beendet die Schulzeit mit einem Aufsatz über die Abwegigkeit der verwegenen Zeit. Wie zufällig streift Rachel einmal Anas Arm.
Die Berührung brennt.
Denn Rachel weiß.
Dass sie Ana nie wiedersehen wird.
Rachel Hart und Ana Davis legen gleichzeitig ihre Stifte aus der Hand und schieben ihre Papierbögen zusammen. Sie sind fertig. Sie haben diese Zeit überstanden. Sie haben, jede auf ihre Art, eine Stille bewahrt, die niemand verstehen konnte. Sie sind Freundinnen geworden. Lautlos und unerkannt. Aber sie haben sich gehalten, bis hierhin, zu diesem Augenblick.
Ana steht auf.
Sie gibt ihre Klausur ab.
Dann dreht sie sich ein letztes Mal zu Rachel um, lächelt ihr zu, und geht kurz darauf aus dem Raum. Rachel blickt sich um, die anderen Schüler sind alle noch am Schreiben. Das Geräusch von Stiften, die eilig über weißes Papier kratzen, erfüllt die Luft. Hin und wieder räuspert sich jemand, ein Junge hustet, ein Mädchen seufzt, irgendwer öffnet das Fenster.
Rachel streicht sich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Sie fühlt sich blass und fiebrig, dabei sieht sie aus wie immer. Nur etwas verloren wirkt sie. Aber auch das geht schnell vorbei. Von einer Sekunde zur nächsten fängt Rachel ihre ziellosen Gedanken wieder ein und holt sie zurück in die Gehirngänge, in denen seit Monaten kein einziger Augenblick Ruhe geherrscht hat.
Rachel Hart verabschiedet sich stumm von ihren eifrig schreibenden Klassenkameraden. Dieses Bild wird sie nie vergessen – es ist so friedlich, wie alles, was sie kennt und erkennen möchte. Es ist das Leben, das sie verpasst hat. Es ist die Furcht vor dem Teil in ihr, der flüstert und flüstert, von Gewalt und Angst und den Lügen ihrer Familie.
Es gibt keinen guten Ausgang.
Für diesen Untergang.
Und einen Ausweg.
Gibt es auch nicht.
Rachel schluckt einmal; aber dann greift sie nach ihrer Tasche, steht auf und packt ihre Sachen zusammen. Nachdem sie kurz darauf ihre Klausur auf dem Lehrertisch abgelegt hat, verlässt sie das Klassenzimmer. Sie betritt den langen Flur mit den bekritzelten Wänden und erreicht wenig später die Toiletten.
Rachel Hart schiebt die quietschende Tür auf, versichert sich, dass sie alleine ist, und öffnet schließlich ihre Tasche. Sie greift nach einer kleinen Dose mit Pillen, schüttet den Inhalt auf ihre Handfläche, und betrachtet einen kurzen Augenblick lang ihr wunderschönes Gesicht in dem schmutzigen Spiegel über dem Waschbecken.
Der Abschied fällt ihr
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