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Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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erste Tageslicht auf der Wasseroberfläche glänzt und aufgeregt schimmert. Er mag auch das Rot ihrer Lippen, es leuchtet in der Dunkelheit, wie wilder Klatschmohn, der auf einer verlassenen Baustelle wuchert.
    Sie liegt dort. Vielleicht schläft sie. Vielleicht tut sie auch nur so. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich. Die Bettdecke ist beiseitegerutscht, und er kann ihren zierlichen Körper sehen, der verhüllt ist von einem viel zu großen, ausgeblichenen Pullover.
    Es ist noch früh am Abend.
    Aber über der Zeit liegt lauernd die Nacht.

    Er steht neben ihr und blickt hinab auf ihre unbewegliche Gestalt. Die langen offenen Haare breiten sich über das Kopfkissen aus, wie ein seidiges Tuch, das ein Geheimnis verhüllt. Aber vielleicht verhüllt es auch einfach nur die Angst, oder einen hässlichen Schmerz.
    Sie hustet leise und dreht sich zur Seite.
    Da tritt er einen Schritt zurück und schämt sich dafür, dass er nun schon so lange dort steht und sie betrachtet. Er weiß, so etwas gehört sich nicht. Und er würde es auch nicht wollen, dass ein Fremder ihn im Schlaf beobachtet. Aber er war so neugierig, er wollte sehen, wie sie aussieht.
    Nun weiß er es.
    Kein weiterer Grund.
    Sie aus ihren Träumen zu reißen.
    Also tastet er sich Schritt für Schritt rückwärts, bis er mit seinem Rücken gegen die Zimmertür stößt. Er öffnet sie lautlos und verlässt kurz darauf auf Zehenspitzen den Raum.

    Im Wohnzimmer ist es kalt, die Heizung ist kaputt, und die Glühbirne flackert. Er setzt sich auf die Couch. Sie ist grau und zerschlissen, aber das stört ihn nicht, er kennt sie nur so. Außerdem wohnt er in einer großen grauen Hochhaussiedlung, in der hässlichsten Gegend der Stadt am Waldrand – hier ist alles alt und verschlissen. Aber auch das stört ihn nicht. Er ist so aufgewachsen, er hat nie viel besessen und trotzdem immer viel gegeben. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Jugendlichen aus der Siedlung hat er nicht die Schule verlassen. Im Gegenteil: Er ist sogar Klassenbester, Schulsprecher und Kapitän der Hockeymannschaft. Ja. Er ist überall beliebt, denn er ist aufmerksam, zuverlässig und freundlich. Außerdem hat er lagunenblaue Augen und haselnussbraunes Haar. Die Mädchen werfen ihm schüchterne Blicke zu und tuscheln hinter vorgehaltenen Händen darüber, ob er wohl eine Freundin hat oder nicht.
    Er hat keine Freundin.
    Er war erst einmal verliebt.
    Und das Mädchen, von dem er so fasziniert gewesen ist, dass er angefangen hat, sie zu lieben, hieß Jenny Emmet und war das wunderbarste Wesen in der ganzen Stadt am Waldrand. Bis zu ihrem Tod. Und auch noch danach konnten alle, die Jenny gekannt hatten, die Spiegelbilder ihres Daseins an der Wasseroberfläche am Schlossteich sehen.
    Der Junge aus der Hochhaussiedlung steht oft an Jennys Grab und erinnert sich an ihr Lächeln. Sie ist auf der gleichen Schule gewesen wie er. Ein paar Jahrgänge unter ihm. Sie war klug und außergewöhnlich, und er hatte sie einige Male nach Hause gebracht. Jennys Mutter, eine liebenswerte Frau, hatte ihn eines Tages sogar hereingebeten. Sie hatte frei und war gerade dabei, einen Kuchen zu backen. Er war unsicher gewesen, aber Jenny hatte seine Hand genommen und ihn zur Tür hineingezogen. Und so war er geblieben und hatte ihre beiden älteren Schwestern kennengelernt, und das schlappohrige Kaninchen.
    Aber das ist nun schon lange vorbei.
    Denn Jenny ist mitten im Regen vor ihrer Haustür gestorben.
    Und der Junge aus der Hochhaussiedlung ist traurig, weil er ein Mädchen verloren hat, bevor er es überhaupt richtig kennenlernen konnte.
    Aber er weiß: Das ist die Zeit. Sie hat einen Schutzgraben um ihren innersten Kern geschlagen, so dass kein Mensch sie jemals durchschauen kann.
    Und er weiß auch: Das ist gut so. Denn wenn wir alles vorher wüssten, was könnten wir dann noch in Erfahrung bringen? Wofür würden wir kämpfen, wenn längst feststehen würde, was wir gewinnen werden?
    Und was wir verlieren.

    Der Junge aus der Hochhaussiedlung. Er ist siebzehn Jahre alt, aber bald wird er achtzehn werden und somit die Volljährigkeit erreichen. Das ist gut so. Denn sein Vater ist drogenabhängig – Heroin, Speed, Ecstasy. Alles, was er gerade kriegen kann.
    Er ist ein schlechter Vater.
    Aber er war einmal ein guter Mensch.
    Irgendwann. Vor langer Zeit. Damals, als der Junge aus der Hochhaussiedlung noch eine Mutter hatte und sie noch nicht mit einem anderen Mann davongerannt war. Aber das ist Vergangenheit, die

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