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Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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sie etwas einsam – es ist nicht leicht, so jung und doch schon so alt zu sein. Aber Serena kennt dieses Dasein, und sie kennt auch den Freiraum, der zwischen ihren Erinnerungen liegt, und den sie jederzeit gestalten kann.
    Wer weiß.
    Was aus ihrem Leben geworden wäre.
    Wenn Evelyn Starlet an diesem einen Abend nicht direkt vor ihren Augen gestorben wäre. Wer weiß, ob sie jemals zurückgekehrt wäre, wenn dieser Schreck sie nicht wachgerüttelt hätte, aus ihren luftleeren Träumen.
    Wer weiß? Wer weiß.
    Es ist nicht wichtig.
    Denn heute, an diesem wunderschönen Frühlingstag, entschließt sich Serena White, nach der Uni noch kurz bei ihrem Vater in der Praxis vorbeizuschauen. Sie trägt ihre Hefter und eine Tasche unterm Arm, und die weißen Schleifen an ihrem hellblauen Frühlingskleid flattern durch die Luft und erinnern sie daran, dass sie einmal das bildhübsche Mädchen auf den riesigen Plakaten gewesen ist.
    Unnahbar und unantastbar.
    Aber diese Zeit ist jetzt vorbei.
    Und Serena lächelt – denn sie fühlt sich heute schöner und glücklicher als je zuvor. Im Treppenhaus stößt sie mit einem Mann in ihrem Alter zusammen. Er hilft ihr, die heruntergefallenen Ordner aufzusammeln. Dann lächelt er ihr zu, und sie lächelt verlegen zurück. Sie weiß nicht, dass er gerade aus der Praxis ihres Vaters kommt. Sie weiß nicht, dass er der Patient mit dem Herzfehler ist, von dem ihr Vater ihr kürzlich erst erzählt hat.
    Sie weiß nur, dass sie sich verliebt hat.
    Zum ersten Mal in ihrem Leben.
    Genau wie er.

    Serena White und Lincoln Reed.
    Sie haben noch vier Monate.
    Einundzwanzig Tage.
    Und sieben Stunden.

24
    D er Mann hat elf Mal versucht sie anzurufen, aber sie geht nicht an ihr Telefon. Und er weiß, das bedeutet nichts Gutes.
    Einen Moment lang schiebt er unruhig einige Notizen auf seinem Tisch herum, dann fängt er an, alle Menschen in der Stadt am Waldrand anzurufen, die sie kennen. Aber keiner weiß, wo sie ist, keiner kann sie erreichen.
    Und da weiß er.
    Sie ist tot.

    Eine Stunde später betritt er ihre Wohnung. Die Polizei hat die Tür aufgebrochen. Er bleibt im Flur stehen, er möchte nicht weitergehen, denn er möchte sie lebend in Erinnerung behalten, nicht leichenblass und totenstill.
    Er betrachtet die Kratzer an der Wand.
    Sie ziehen sich dahin.
    Bis in alle Räume.
    Und er weiß: Irgendwo dort, in dem Schweigen, das zu groß war für ihre Stille, liegt sie und schläft für immer. Er hofft, dass es ein ruhiger Schlaf ist, dass sie lächelt in ihren Träumen, und dass sie aufwacht, an einem wunderschönen Ort.
    Weit, weit weg.
    Von der Stadt am Waldrand.

    Der Mann geht nach Hause. Er wohnt im Dachgeschoss eines hellblauen Hauses mit efeubewachsenen Mauern. Auf dem großen Balkon stehen Pflanzen, ein kleiner Olivenbaum und unzählige Steine in allen Größen und Formen.
    Er bleibt dort stehen.
    Zwischen den Pflanzen und den Steinen.
    Direkt unter dem riesigen Himmel.
    Bald werden die ersten Sterne aufgehen, sie werden funkeln und glitzern und leuchten; sie werden den Mond umtanzen und bis zum Morgen hin wach bleiben. Erst wenn die Morgenröte in der Ferne erscheint, werden sie sich zurückziehen und den Himmel freigeben, für die Sonnenstrahlen und für die weißen Wolken, von denen manchmal eine aussieht wie ein Kranich.
    Der Mann ist müde, aber er wird auf seinem Balkon stehen bleiben. Die ganze Nacht. Er wird die Sterne betrachten und den Mond, er wird nach Nebelschwaden Ausschau halten, und nach dem Staub der herabfallenden Erinnerungen.
    Doch es wird dunkel werden.
    Immer dunkler.

    Und früh am nächsten Morgen dann wird der Mann in sein Büro gehen und nichts von dem tun, was er sonst tut. Er wird keine Termine koordinieren, keine Rechnungen verschicken, kein einziges Blatt Papier auf den Kopierer legen.
    Er wird nur einen luftleeren Brief öffnen, in dem Versuch zu funktionieren. Aber die Buchstaben und Zahlen werden vor seinen Augen verschwimmen – zu einem Fluss aus Worten und Zeit. Sie werden davongleiten in einem Strom aus blau glitzerndem Licht.
    Und dann wird es hell werden.
    Immer heller.
    Bis alles verschwindet.

    Der Mann.
    Er hatte eine Tochter.
    Sie hieß Alice Clay.

25
    K athy und Edward. Aufgewachsen in der Stadt am Waldrand, geboren in der Nähe des Schlossparks. Sie war die Prinzessin auf der Erbse, damals im ersten Schultheaterstück, und er war die Erbse in einem hässlichen knallgrünen Kostüm.
    Alle haben über ihn gelacht damals.
    Aber Kathy hat

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