DACKELKRIEG - Rouladen und Rap
das Internet. Die Bombenanschläge in Tel Aviv finden nicht vor meiner Haustür statt, sondern bei
Twitter
,
Facebook
und in den unzähligen Blogs, die ich regelmäßig lese. Die reale Welt ist für mich nicht nur äußerst langweilig und es daher nicht wert weiter beachtet zu werden, sondern zudem auch noch unverhältnismäßig fordernd. Aber ohne mich! Ich kann auch anders, schießt es mir durch den Kopf.
Der Eventcharakter des Lebens ist irgendwann in den letzten Jahren auf der Strecke geblieben und es hat sich niemand mehr nach ihm umgeschaut. Wer auch immer einem erzählen möchte, dass man weniger Lesen, weniger Zocken und weniger
WhatsApp
-Nachrichten verschicken soll, ist vermutlich ziemlich alt, derbe abgenutzt und hat sich bereits vollkommen aufgegeben. Diese Menschen würden vom Türsteher des Internets ohnehin nicht mehr rein gelassen, auch wenn sie wollen würden. Sie haben ihr Leben meist damit verbracht, schlimme Bombenangriffe zu überleben, im Volksempfänger schrammeligen Walzer zu hören und heiße Kartoffeln mit den bloßen Händen zu schälen, um sie sich dann ungewürzt, mit einem Stück Butterschmalz, in den rissigen Mund zu stopfen. Das ist auch in Ordnung so. Nebenher haben sie dann noch zugesehen, genügend Kinder zu bekommen, damit nach eventuellen Ernteeinbußen immer ein oder zwei von ihnen übrig blieben, um den Acker umzugraben. Sie waren auch sonst immer ganz gut damit beschäftigt, an diesen Gott da oben zu glauben. Für mich ist das alles soweit kein Problem, steht aber im krassen Gegensatz zum Verständnis von Gott von denjenigen, die mit dem Internet groß geworden sind oder schon mal die Kommentare unter
Spiegel Online
Artikeln gelesen haben. Unser Gott ist nicht existent und das ist doch ein toller Erfolg des Internets.
Dabei trennt uns physisch gar nicht so viel von Menschen, die das Internet nicht nutzen. Ja okay, wir Internetuser onanieren mehr und tragen häufiger Sehhilfen und Motivshirts mit peinlichen Nerd-Witzen. Allerdings plagen uns die gleichen weltliche Dinge, wie Diarrhö, liebe Großeltern und liebe Internetverweigerer. Aber wir können im Fall der Fälle einfach im Internet nachlesen, was man gegen Durchfall unternehmen kann, und schließlich magische Dinge tun, wie das günstige und bestwirksamste Medikament in einer großen Online-Apotheke zu bestellen. Dafür mussten wir noch nicht einmal das Haus verlassen und versehentlich andere Menschen auf der Straße mit unserem Mist anstecken. Am nächsten Tag liegt das Medikament dann im Briefkasten und macht uns schnell wieder gesund. Nachher können wir sogar als kleinen Zusatzbonus bei
OkCupid
den passenden Partner finden, weil dieser auch zufällig angibt unter starker Diarrhö zu leiden. Es gibt für jeden Topf den passenden Deckel. Und wenn nicht, dann bestellt man eben einen im Internet.
Probleme mit dem Kopf hatte ich schon immer. Keine Ahnung ob das ADHS ist oder ob mich, wie immer, die Schuld für den ganzen Irrsinn trifft. Dann müsste ich mich allerdings vor mir selbst verantworten und das wäre mir eher unrecht. Daher klingt ADHS in meinen Ohren immer viel besser. Mein Kopf spielt ständig
1,2 oder 3
, bloß dass es für mich nur die Wahl zwischen zwei Felder gibt: Feld 1 ist ADHS und Feld 2 sind Selbstvorwürfe und ein Selbstwert, der sich noch nicht einmal im Schlussverkauf als "stark reduziert" unter die Leute bringen lassen würde. Das ist vermutlich so, weil ich niemals ein besonders netter Mensch war, und ein nettes Kind war ich schon gar nicht, und diesen Umstand finde ich sogar oft irgendwie gut und kann mich selbst dabei auch noch beobachten. Dafür schäme ich mich dann. Das ist mir zu paradox, also habe ich lieber ADHS.
Wenn man sich also wie ich für Feld 1 entscheidet, bezahlt man zehn Euro Praxisgebühr an einem kinnhohen Tresen und darf in einer hübschen Praxis, in einem hübschen Stadtteil, bei einem hübschen Spezialisten, auf einem bequemen Polstermöbel sitzen, der dann mit einer stumpfen Zickzackschere den Schädel ohne Betäubung auftrennt und mal reinguckt ob er dort ADHS findet. Aber ADHS ist meistens ziemlich gut versteckt und der Arzt muss richtig lange suchen, dabei mit rostigen Werkzeugen im Kopf rumwühlen und viele andere Teile des Gehirns auch anfassen, die sich danach leider gar nicht mehr so gut anfühlen, weil sie lieber nicht mit einem Pürierstab bearbeitet werden wollten. Die Kopfnaht verschwindet dann auch nie vollständig und man kann einem diese Prozedur für immer
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