Dämenkind 2 - Kind der Götter
Harshini und auch alle Tiere des Sanktuariums konnten sich die Gewächse nicht fortpflanzen.
Allmählich entwickelte sich die Frage des Lebensunterhalts zu einer echten Sorge, und das in solchem Maß, dass Korandellan einer Anzahl von Harshini erlaubt hatte, das Sanktuarium zu verlassen. Manche zogen in aller Offenheit hinaus in die Welt, so wie Glenanaran, der sich nach Hythria begeben hatte, um bei der Magiergilde zu unterrichten. Andere Harshini gingen getarnt und mit aller Vorsicht unter den Menschen um und erhandelten oder ertauschten dringend benötigte Nahrungsmittel. Obgleich Korandellan es mit keinem Wort zugab, vermutete R'shiel, dass die Furcht vor Xaphista und den karischen Priestern die Harshini zu solcher Vorsicht bewog.
Bald nachdem man R'shiel im Sankturarium volle Bewegungsfreiheit gewährt hatte, entdeckte sie, dass auch künstlerische Darbietungen stattfanden. In einem
Amphitheater inmitten der Gartenanlagen wurden unter dem ewigen Regenbogen der Wasserfälle – im lauschigen Zwielicht des Sonnenuntergangs über den Bergen – Musik und Gesang dargeboten. Als R'shiel die Harshini das erste Mal singen hörte, musste sie weinen. Auf die reine Schönheit ihrer Stimmen und die vollkommene Beherrschung der Instrumente war sie überhaupt nicht gefasst gewesen, denn dergleichen gab es in der Welt der Menschen nicht.
Bisweilen erfolgten die Auftritte aus dem Stegreif; von den Anwesenden traten Einzelne oder mehrere vor, um ihren Freunden und Bekannten etwas darzubieten. Bei anderen Gelegenheiten wurden die Aufführungen so sorgsam vorbereitet wie die GründungstagFestumzüge der Zitadelle, und dann verklärte der gemeinschaftliche Chorgesang der Harshini R'shiels Empfinden auf eine erhabene Weise, die sie bis dahin noch nicht kennen gelernt hatte. »Gimlories Lied« nannten die Harshini diesen Gesang, er galt als Geschenk des Gottes der Musik. In gewisser Hinsicht war er ein Gebet, aber er hatte auch die Kraft, die Seele des Zuhörers gleichsam zu verschlingen. Die getragen-feierliche Melodie, ihre ausgeklügelten Harmonien sowie die klaren, wundervollen Stimmen der Harshini bewirkten gemeinsam im Geist das Entstehen von Bildern, die nicht allein Verzückung hervorriefen, sondern die Grenzen des Verstands berührten.
Wenn »Gimlories Lied« erklang, versammelten sich auch die Dämonen im Amphitheater und verhielten sich ungewohnt ruhig, während sie mit großen Augen und Mienen der Hingerissenheit dem Chor lauschten.
R'shiel konnte sehr wohl nachvollziehen, weshalb die Musik sie dermaßen begeisterte, und beklagte im Stillen den Verlust dieser Klänge für die Welt der Menschen.
Es geschah nach einer weiteren solchen Darbietung, dass R'shiel eine höchst wichtige Entscheidung fällte. Tarjanian Tenragan verkörperte für sie bloß noch eine nette, aber im Erblassen begriffene Erinnerung. Frohinia und Loclon waren in ihrem Gedächtnis in derartig weite Ferne gerückt, dass sie kaum noch einen Gedanken an sie verschwendete. Xaphista mochte die Sorge der Götter sein, nicht jedoch ihre Angelegenheit. Angeblich stand ein Krieg bevor, aber auch das störte nicht die heiter-gelassene Erhabenheit dieser andersweltlichen Zufluchtsstätte. Im Sanktuarium herrschte Friede, hier konnten die Wirrnisse der Außenwelt sie nicht anfechten. Immerhin war sie Halb-Harshini und somit an diesem zauberhaften Ort willkommen.
R'shiel gelangte zu der Auffassung, dass es ihr durchaus keinen Kummer bereiten würde, falls sie niemals in die Außenwelt zurückkehrte.
13
KARIEN WAR EIN AUSGEDEHNTES LAND voll hoher, immergrüner Bäume und zerklüfteter Täler und hatte fern im Osten steile, von Schneegipfeln gekrönte Berge. Da der Herbst nahte, wurde das Wetter stets kühler, je weiter das Schiff nordwärts segelte. Jeden Morgen bibberte Adrina vor sich hin, wenn sie sich an Deck ihren täglichen Leibesübungen widmete.
Der Eisenfluss erwies sich als stark befahrener Wasserweg. Das Schiff kam an zahlreichen Dörfern vorbei, von denen manche einen wohlhabenden Eindruck hinterließen; andere dagegen verdienten kaum als Siedlung bezeichnet zu werden, so erbärmlich und schäbig sahen sie aus. Alle jedoch mussten in den Augen einer Prinzessin, die in den weitläufigen, von rosigen Mauern umgrenzten Städten Fardohnjas aufgewachsen war, drangvoll eng wirken. Wahrhaftig schien Karien kein Land zu sein, das man als farbenfroh hätte bezeichnen können. Die Ortschaften und ihre Bewohner überboten sich schier gegenseitig an
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