Dämmerschlaf - Roman
Bedeutung und Autorität, und am Ende ein Absturz ins Schale und Sinnlose.
Gestern Abend hatte er seinen Arzt aufgesucht und von ihm zu hören bekommen, er arbeite zu viel und benötige dringend ein Stärkungsmittel sowie Luftveränderung. «Unternehmen Sie eine Kreuzfahrt zu den Karibischen Inseln oder so etwas. Können Sie nicht einmal für drei oder vier Wochen weg? Nein? Gut, dann jedenfalls mehr Golf.»
Weg von allem. Man müsse sich ständig allem entziehen – moralisch, geistig und körperlich –, so wurde es ringsum gepredigt und praktiziert, nur da nicht, wo es ums Geldverdienen ging! Er, Dexter Manford, der auf einer Farm in Minnesota aufgewachsen war, seinen Lebensunterhalt auf dem State College in Delos selbst bestritten und das anschließende Jurastudium in Harvard selbst finanziert hatte, der seither auf Hochtouren arbeitete und Überanstrengung oder den Wunsch, sich zu entziehen (er nannte es «sich drücken») nur in dem Maß verspürte, wie dies einem gesunden, körperlich leistungsfähigen Mann von fünfzig Jahren zustand! Wenn seine Aufgabe einzig im Geldverdienen bestanden hätte, hätte er Erschöpfung gekannt und anerkannt. Aber er hatte Freude an seinem Beruf, an den Mühen und Schwierigkeiten nicht weniger als an der Entlohnung; er befriedigte ihn intellektuell und schenkte ihm jenes gelassene Gefühl der Überlegenheit, der Herrschaft über sich selbst und andere, das nur die kennen, die etwas tun, wozu sie geschaffen sind.
Natürlich hatte er in jeder Phase seiner Karriere – und niemals mehr als jetzt, auf ihrem schwindelerregenden Gipfel – unter den tausend ärgerlichen Kleinigkeiten zu leiden gehabt, die untrennbar mit einem Leben voll harter Arbeit verbunden sind: dem Kleinkram, der einem die Zeit stiehlt, den Idioten, die einem so viel Geduld abverlangen, dem verflixten Scheitern der sicher geglaubten Pläne und der nicht enden wollenden Mühsal, die menschliche Dummheit den steilen Berg des Begreifens hinaufzurollen. Aber bis vor Kurzem waren ihm diese Dinge eher ein Ansporn gewesen; es hatte ihm Spaß gemacht, Lappalien abzuschütteln, Langweiler zu übertölpeln, Fehlschläge zu vermeiden und seine geistigen Muskeln spielen zu lassen, um dumme Menschen zu klugem Handeln zu überreden. In seinen Adern floss das Blut von Pionieren; er war es gewohnt, jeden Morgen aufzubrechen und sich den Weg durch frisch keimende Vorurteile und Hindernisse frei zu schlagen, und obwohl ihn seine hohen Anwaltsvorschüsse freuten, bedeutete es ihm das eigentliche Vergnügen, die jeweilige Sache vor Gericht durchzufechten.
Was seinen Beruf betraf, war er an intellektuelle Einsamkeit gewöhnt; sie machte ihm nichts mehr aus. Was die Welt jenseits des Berufs betraf, besaß er zwar einen überdurchschnittlichen Verstand, aber keine entsprechende Allgemeinbildung. Das Missverhältnis zwischen dem, woran er hätte Gefallen finden können, wenn sein Verstand darauf vorbereitet gewesen wäre, und dem, was ihm tatsächlich aufzunehmen gelang, machte ihn in den Kreisen, die er für gebildet hielt, zu einem bescheidenen, fast schüchternen Menschen. Er hatte seine Frau lange Zeit für gebildet gehalten, weil sie manchmal anfallartig Bücher kaufte und in ihrem New Yorker Haus eine Bibliothek mit kostbar gebundenen Büchern existierte. Als grüner Junge damals in Delos hatte er sich eine kleine Bibliothek zusammengetragen, in der Robert Ingersolls 20 Reden stellvertretend das Freidenkertum vertraten, die Predigten von Reverend Frank Gunsaulus aus Chicago die Theologie, John Borroughs die Naturwissenschaft und Jared Sparks und Bancroft fast die gesamte Geschichte. Im Lauf der Zeit hatte er erkannt, wie unzureichend diese Leitfäden waren, sich jedoch nie bemüht, sie durch andere zu ersetzen. Hin und wieder, wenn er nicht zu müde war und ihm das seltene Glück eines ruhigen Abends zuteilwurde, suchte er sich ein Buch von Paulines Tisch aus; aber sie kaufte alle möglichen Bücher von unterschiedlichster Qualität, und so fand er kaum je etwas Lesenswertes. Mrs Tallentyres 21 «Voltaire» war eine Offenbarung gewesen: Verwundert stellte er fest, dass er eigentlich nicht gewusst hatte, wer Voltaire war, in welcher Welt er gelebt und warum sein Name überdauert hatte. Daraufhin verordnete sich Manford einen Lehrgang in europäischer Geschichte und kam damit so weit, dass er den ersten Band Macaulay 22 mit ins Bett nahm. Doch abends war er müde, und Macaulays Sätze fand er zu lang (obwohl dessen Redekunst
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